C. J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation. 75
sittliche Leben derselben, auf ihre Wohlfahrt, durch die Förderung des Gemeinsinns, der Sparsam-
keit und der Ordnung. Daher wird auch das ländliche Genossenschaftswesen von der ländlichen
Wohlfahrtspflege möglichst unterstützt. Trotz der glänzenden Entwicklung, die es gerade in
Deutschland ın den letzten Jahrzehnten genommen hat, sind von den 2,5 Millionen selb-
ständiger Landwirte doch ımmer erst 1,2 Millionen genossenschaftlich organisiert. Noch
steht also die Hälfte der deutschen Landwirte ausserhalb der Genossenschaften. Daher ist noch
viel zu ihrer Ausbreitung zu tun, und es erscheint als Aufgabe der Wohlfahrtspflege, dahin zu wirken,
dass jedes Dorf in Deutschland an der Genossenschaftsbewegung beteiligt ist. In diesem Sinne
wirken denn auch der Deutsche Verein und seine Landesvereine allenthalben. Wenn sie auch nicht
selbst Genossenschaften gründen — das ıst Sache der Zentralorgane —, so bereiten sie doch den
Boden dafür durch Überwindung der Haupthindernisse: des mangelnden Verständnisses und des
Misstrauens. Sie suchen die Bevölkerung genossenschaftlich vorzubilden und stellen vor allem die
Persönlichkeiten für die leitenden Ämter. Besonders handelt es sich für sie aber auch um eine Ver-
wendung der Genossenschaftsform zur Förderung und Entwicklung von vernachlässigten Zweigen
der Landwirtschaft und von neuem Nebenerwerb. Auf dem ganzen Gebiet der ländlichen Ha us-
ındustrıe und des Hausileisses ıst sie die Form, welche es ermöglicht, deren sozialpolitische
Schäden zu vermeiden oder zu beseitigen. Auf der anderen Seite hat die Organisation des deut-
schen ländlichen Genossenschaftswesens, insbesondere zuerst der grosse Raiffeisenverband, aber
jetzt auch der ganze Reichsverband, selbst die Förderung der ländlichen Wohlfahrtspflege in ihr
Programm aufgenommen und sıch auf dem 23. deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaftstag
zu Münster offiziell auf den Boden der ländlichen Wohlfahrtsarbeit gestellt.
Das eigentliche selbständige Arbeitsgebiet der ländlichen Wohlfahrtspflege aber betrifft
denichtwirtschaftliche Fürsorge für die ländliche Bevölkerung, im Nordosten wieder-
um dıe ländlichen Arbeiter, ın den übrigen Gebieten auch die bäuerliche Bevölkerung, nament-
Iıch dıe kleinbäuerliche des Südwestens. Hier haben wir zunächst die Hauptgebiete der nicht-
wirtschaftlichen materiellen Fürsorge zu nennen. Sie sind: 1. Rechtsschutz und
Rechtsauskunft, 2. die Fürsorge auf hygienischem Gebiet: sie bezieht sich auf
Wasserversorgung, Beseitigung der Abfallstoffe und Abwässer, die hygienischen Massnahmen bei
der Milchwirtschaft (hier erhebt sich vor allem das Problem der Gefährdung der Ernährung der
Landbevölkerung durch die Molkereigenossenschaften), die Desinfektion, dıe Bekämpfung der Tu-
berkulose, die Kontrolle des Schlacht- und Bäckereibetriebs und den Transport infektiöser Kranker-
Dazu kommen dann auch noch die Schaffung einer ländlichen Bauordnung, welche auch die hyl
gıenische Seite berücksichtigt, die Gesundheitspflege in den Schulen, Nahrungsmittelkontrols-
und die Einrichtung von Sanitätskommissionen. Sind für die Ausführung dieser sanıtären Mase.
regeln auch in erster Linie die Kreis- und Gemeindebehörden berufen, so vermögen sie doch gerade
ın der ländlichen Bevölkerung einen Erfolg nur dann zu erzielen, wenn sie auf ein genügendes
Verständnis treffen, und dieses durch aufklärende und belehrende Vorträge zu wecken, ıst wiederum
Aufgabe der ländlichen Wohlfahrtspflege. Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung von
Badeanstalten in den Schulen oder Gemeindehäusern. 3. Die Krankenpflege; sie hat ın
den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung hauptsächlich dank den verschiedenen Frauen-
organısationen, insbesondere dem Frauenverein vom Roten Kreuz genommen. Es handelt sıch
hauptsächlich um Einrichtung von Gemeindepflegestationen, Krankenpflegeschränken (,Char-
lottenspende“) und Anstellung von Krankenpflegeschwestern. 4. Kleinkınderbe-
wabranstalten, Waisenpflege und Krüppelfürssorge. 5. Die hauswiırtschaft-
liche Ausbildung der Mädchen und Frauen. Sie wird durch den eingetretenen
Wandel ın der Ernährung auf dem Lande immer notwendiger, nicht nur für dıe Arbeiterklassen,
sondern auch für die bemittelteren und wohlhabenden Familien der bäuerlichen Bevölkerung,
deren Töchter durch Entsendung in ein Pensionat oder Hotel dem Lande entfremdet werden.
Der Haushaltungsunterricht muss also allen Klassen zugute kommen und muss wie die Sparkasse
ins Dorf selbst gebracht werden. Das durchgreifende Mittel, die notwendige Unterweisung auf
diesem Gebieteins Dorfund zu allen Dorfmädchen zu bringen, sind dieWanderkochkurse. Neben
der besseren Erziehung der weiblichen Jugend in der Haushaltung ist hier auch als ein bescheidenes,
aber nicht unwirksames Wohlfahrtsmittel die ‚Kochkiste‘“ hervorzuheben, welche durch die