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Martin Weigert, Die liberalen Berufe im Allgemeinen.
Fortschritt führt zu einer immer weitergehenden Differenzierung der wirtschaftlichen Verrichtungen
und bahnt allmählich eine technische wie gesellschaftliche Arbeitsteilung an. Die Arbeitsteilung
aber trennt und verknüpft wiederum die Menschen politisch, geistig, wirtschaftlich und zwar in dem
Masse, wıe dıe Kultur steigt und die gesellschaftlichen Körper grösser und verschlungener werden.
Do kommt es einerseits zu einer Scheidung der Gesellschafts- und andererseits zur Ausbildung der
verschiedenen Berufsklassen : das Handwerk tritt der Urproduktion, die Stadt dem Lande gegenüber;
die Verfolgung religiöser Zwecke und die Verwaltung der gemeinsamen Interessen wird eine eigene
Berufsaufgabe. Wissenschaftliche und künstlerische Bildung ermöglicht eine besondere wirtschaft-
liche Existenz — die liberalen Berufe sondern sıch von den wirtschaftlichen Berufen ab.
Die Tätigkeiten, welche in unseren neuen Volkswirtschaiten die liberalen Berufe charak-
terisieren, nämlich die Ausübung des ärztlichen und Rechtsanwaltsberufes, die Journalistik, das
Künstler- und Gelehrtentum bildeten im Altertum vorwiegend die unbezahlte Nebenbeschäftigung
der Priester oder anderen Aristokraten. Daneben fand sich aber früh der bezahlte Spielmann,
Gaukler, Arzt und Künstler. Mit Ausbildung der Geldwirtschaft nımmt die Bezahlung der liberalen
Tätigkeit einen immer grösseren Umfang an; es drängten sıch zu diesen Berufen Talente aus allen
Klassen. Insbesondere sind hierzu ım Zeitalter des Perikles, Sokrates und Plato die Sophisten zu
rechnen, die gewerbsmässig, für Geld, nicht bloss mancherlei positive Kenntnisse (Grammatik,
Rhetorik, Rechts- und Staatslehre), sondern sittliche und politische Tüchtigkeit überhaupt zu unter-
richten sich anheischig machten. Im Rom der Kaiserzeit waren es hauptsächlich asiatische und grie-
chische Elemente, die daselbst als ‚Freigelassene” lebten, keine feste Vorbildung, keine Standesehre
besassen, sıch für dıe minderwertigsten Gauklerkünste, wıe für guten ärztlichen Rat gleich hoch be-
zahlen liessen und deren Charakterlosigkeit, Korruption und Gewinnsucht sprichwörtlich wurde.
In den einfachen mittelalterlichen Verhältnissen wurde die liberale Tätigkeit wieder zur unbe-
zahlten Arıstokratenarbeit des Klerikers und des Patriziers. Die Klöster waren der Hort stiller
Gelehrsamkeit und wissenschaitlicher Bildung; an den Höfen der Rıtter und Landesherren wurde eine
edle Kunst gepflegt. Als beim Übergang in die komplizierte moderne Gesellschaft die Gelehrten-
und Künstlertätigkeiten wieder nach Lohn zu gehen begannen, drohten die ähnlichen Gefahren,
wie ım Altertum: Die fahrenden Gelehrten, Schauspieler und Journalisten setzten sich vorwiegend
aus Elementen zusammen, die moralisch keineswegs einwandfrei waren oder die sonstwie in
anderen Karrieren Schiffbruch gelitten hatten.
Erst ım letzten Jahrhundert, mit der Entwicklung unseres neuen Schul-, Studien- und
Examenwesens, sowie unter dem Einfluss der Standesvereine, der Ärztekammern mit ihren Ehren-
gerichten etc. haben sich die meisten liberalen Berufe zu festen Laufbahnen umgebildet. Die ein-
zelnen Gruppen haben für ihre Berufsangehörigen eine feste Standesehre, bestimmte Normen über
Vorbildung, Studiengang, Berufspflichten und sichere Anstandsschranken des Gelderwerbes ge-
schaffen. Obwohl alle diese Kreise dadurch ein gemeinsames Band umschlingt, dass sie an einer über
der Volksschule stehenden Bildung und Gesittung und an gewissen gesellschaftlichen Lebensformen
gleichmässig teilnehmen, so zeigen doch vielfach ihre Herkunft, ihre Sıtten, ıhre rechtliche und so-
zıale Stellung grosse Abweichungen.
Die Zahl der Personen, welche heute zu den liberalen Berufen gerechnet werden, hat sıch ın
den letzten hundert Jahren ausserordentlich vermehrt. Ihre Gesamtziffer lässt sich aus der Reichs-
statistik nicht einwandfrei feststellen, da in dieser Berufsgruppe die Angehörigen der freien Berufe
nicht von dem öffentlichen und Privatbeamtentum geschieden sind. Nichtsdestoweniger gıbt dıe
Betrachtung einzelner hierher gehöriger Berufsarten immerhin ein interessantes Bild. Nach der
Reichsstatistik waren z. B. Erwerbstätige im Hauptberuf in der Berufsart Gesundheitspflege und
Krankendienst tätig: 1882: 73 299, 1895: 122 138, 1907: 179 782.
In der Berufsart Privatgelehrte, Schriftsteller und Journalisten gab es ım Jahre 1895: 5507,
ım Jahre 1907: 8753.
Die Berufsart Theaterdirektoren, Schauspieler, Dirigenten, Musiker und Künstler aller Art
wıes 1882: 46 508, 1895: 65 565, 1907: 81 415 Erwerbstätige auf.
Die folgende Darstellung muss sich, unter Ausschaltung des Ärzte- und Rechtsanwaltsstandes,
welcher besonders behandelt ist, darauf beschränken, einige der wichtigsten hierher gehörenden