Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

88 
  
Martin Weigert, Die liberalen Berufe im Allgemeinen. 
  
    
Architektenverein etc.), doch hat sich die Tätigkeit dieser Vereine vorwiegend auf das wissenschaft- 
lich-technische Gebiet erstreckt. Eine Hebung der sozialen Stellung und eine Förderung der materi- 
ellen Interessen der Architekten und Ingenieure ist von einzelnen Vereinen durch Ausarbeitung 
von Normaltarifen für Honorarforderungen und Aufstellung von Entwürfen zu Verträgen zwischen 
Bauherren, Architekten und Unternehmern, sow.e durch Verhandlungen über Regelung der Haft- 
pflicht versucht worden. Andere Organisationen bekämpfen das Techniker- und Handwerkerwesen, 
dem sie Halbbildung und Überschreitung der natürlichen Grenzen zum Vorwurf machen. Ein 
Gegensatz besteht auch zu den staatlichen, städtischen und kırchlichen Baubeamten, weil diese die 
Entwürfe für die in ihrer Verwaltung auszuführenden Bauten selbst herstellen, anstatt sie Archi- 
tekten zu übertragen. An die gesetzgebenden Faktoren sınd Eingaben gerichtet worden, in welchen 
eine Gleichstellung der technischen Hochschulen mit den Universitäten gefordert und eine Regelung 
der Titelfrage angeregt wird. Daneben sind die Probleme der Beschäftigungslosigkeit und die Ord- 
nung des öffentlichen Submissionswesens zum Gegenstande der Erörterungen gemacht worden. 
Die moderne wirtschaftliche Entwicklung hat bekanntlich den Anstoss zur Bildung von Kar- 
tellen, Syndikaten, Konventionen, Unternehmerverbänden und amtlichen Interessenvertretungen, wie 
Handels-, Gewerbe-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern, gegeben. Die Führungz der 
Geschäfte dieser Organisationen liegt zum grossen Teil ın der Hand wissenschaftlich vorgebildeter, 
praktischer Volkswirte, die zu den freien Berufen gezählt werden müssen, da sie dem 
Charakter ihrer Stellung nach weder unter die Klasse Privatbeamten noch unter die der öffentlichen 
Beamten fallen. Die wirtschaftliche Lage der grossen Mehrzahl der praktischen Volkswirte 
entspricht vielfach keineswegs ihrem Bildungsgrade und ihrer sozialen Stellung. Die Besoldung auf 
den leitenden Posten, welche naturgemäss nicht dicht gesät sind, schwankt bei den öffentlichen 
Korporationen zwischen 3000 und 7500 Mark. An wenigen grossstädtischen Handelskammern 
sowie bei einzelnen bedeutenden Kartellen und Interessenorganisationen erreichen die Geschäfts- 
führer Gehälter von 8000, 10 000, ja mitunter 12 000 Mark und mehr. Dieser Oberschicht steht die 
grosse Masse der volkswirtschaftlichen Sekretäre, Assistenten, wıssenschaftlicher Hilfsarbeiter etc. 
gegenüber, die nach längerer unbesoldeter Volontärzeit Gehälter beziehen, welche je nach dem 
Dienstalter zwischen 1200 und 3600 Mark schwanken. Da vor einigen Jahren die Aussichten zu 
schneller Erlangung einer beso!deten Stellung in diesem Berufe günstiger erschienen, als in irgend 
einer höheren Staatsbeamtenkarriere und überdies keine schwierigen Staatsexamina den Eintritt 
hemmten, hat sich in den letzten Jahren ein steigender, den Bedarf überschreitender Zudrang zu den 
fraglichen Stellungen bemerkbar gemacht. Eine Besserung hierin kann vielleicht erzielt werden durch 
Aufklärung über die wenig günstigen Berufschancen, durch Vorschriften über einen bestimmten 
Bildungsgang sowie durch Einführung einer dem Assessorexamen entsprechenden Prüfung über die 
praktische Ausbildung. Die standespolitischen Bestrebungen des ‚Deutschen volkswirtschatt- 
lichen Verbandes“, der einzigen bedeutenderen Berufsorganisation, haben bisher wenig positive 
Erfolge hinsichtlich der Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Volkswirte gezeitigt. 
Durch Publikation von Vakanzenlisten, die jedoch nur einen verhältnismässig kleinen Prozent- 
satz direkt der Geschäftsstelle angemeldeter Vakanzen enthalten, betreibt der Verband eine 
primit ve Stellenvermittelung. — 
Die Bedeutung, welche die liberalen Berufe für unsere moderne Gesellschafts- und Wiırt- 
schaftsentwicklung erlangt haben, wird treffend durch die diesbezüglichen Ausführungen Gustav 
von Schmollers (Grundriss der Volkswirtschaftslehre Bd. I, S. 379) charakterisiert, welcher darauf 
hinweist, dass diese Klasse dem ganzen Mittelstande, der sonst überwiegend dem Geschäfte und dem 
Erwerbe lebt, eine edlere Denkungsart eingeimpft sowie eine gewisse geistige Schwungkraft verliehen 
hat, die den nakten egoistischen Klasseninteressen anderer Kreise ein ideales Gegengewicht ent- 
gegenstellen. Die liberalen Berufe haben vielleicht zeitweise mit abstrakten Theorien Staat und Gesell- 
schaft zu sehr beeinflusst. Im ganzen aber sind sie die eigentlichen Träger des wissenschaftlichen 
Fortschritts, des Idealismus und der vornehmen Gesinnung gewesen. Heute mehr als früher übt 
der Stand unserer Gelehrten, Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Journalisten, Volkswirte etc. 
durch seine Berufstätigkeit einen ausserordentlich grossen Einfluss auf die Weiterentwicklung 
von Gesellschaft und Volkswirtschaft aus. 
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.