Full text: Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche.

Einleitung; Wirtschaft. 83. 13 
4. In entschiedenem Gegensatz zu dieser Lehre des Individualismus steht 
die des Sozialismus, die das Einzelinteresse als bewegende, wirt— 
schaftliche Kraft verwirft, das Privatkapital in ein Gesamtkapital, die 
Einzelerzeugung in eine Gesamterzeugung verwandelt sehen und so 
das Einzelwesen ganz in der Gesamtheit aufgehen lassen will. Der 
Ursprung dieser Bewegung liegt in der Scheidung der Gesellschaften in 
Klassen und in dem natürlichen Streben des einzelnen, in diesen Klassen 
aufzusteigen. Rechtlich steht diesem Streben im Verfassungsstaate keine 
Schranke entgegen. Wirtschaftlich tritt aber der kapitallosen Arbeit, 
die durch Kapitalerwerb zur Selbständigkeit durchdringen möchte, das 
Übergewicht entgegen, welches das Kapital über diese Arbeit regel- 
mäßig behaupten und geltend machen wird. Der Kommunismus fordert 
demgegenüber die Beseitigung des Kapitals und damit des Eigentums 
überhaupt, während der Sozialismus die Unterordnung des Kapitals 
unter die Arbeit erstrebt. — Die soziale Bewegung war in der 
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Frankreich durch Graf 
St. Simon und Fourier in Fluß gekommen und seit Louis Blanc, 
der das Recht auf Arbeit aufstellte, mit der politischen Bewegung 
in Verbindung gebracht (1848). Aus dieser Verbindung, die nach 
ihrer Übertragung auf Deutschland durch Marx und vor allem 
durch Lassalle weiter entwickelt wurde, ist die Sozialdemokratie ent- 
standen.), Diese geht von dem Grundsatz aus, daß die Hand- 
der vorbeugend durch verminderte Ehe- 
schließung u. Kindererzeugung (Quelle 
der Prostitution), abwehrend durch Hun- 
gersnot u. Seuchen entgegengewirkt werde. 
Er verwirft deshalb jede Förderung der 
Volksvermehrung u. jede ausgedehntere 
Armenpflege; seine Schüler forderten so- 
gar Ehebeschränkungen u. Förderung der 
Auswanderung. Nach Ricardo wird der 
Umfang der Erzeugung allein durch das 
Kapital des Arbeitgebers bestimmt. Da 
die Arbeiterbevölkerung sich schneller ver- 
mehrt als der für den Lohn ausgesetzte 
Betrag, kann der regelmäßige Arbeits- 
lohn nicht über die gewöhnlichen Unter- 
haltungskosten einer Arbeiterfamilie stei- 
gen. Dieser Satz, den der Sozialismus 
(Lassalle) als das eherne Lohngesetz be- 
zeichnet, die heutige Sozialdemokratie aber 
als unhaltbar wieder fallen gelassen hat, 
bildet den Ausgang für den Klassen- 
kampf zwischen Kapital und Arbeit 
(§ 34). — Zu völlig abweichenden Er- 
gebnissen gelangen zwei spätere Schüler 
Smiths, der Amerikaner Carey und der 
Franzose Bastiat (§ 2 Anm. 6). Carey 
(1793—1879) sieht in der Vermehrung 
  
und Ausbildung der erzeugenden Kräfte, 
wie die fortschreitende Kultur sie mit 
sich bringt, das natürliche Gegengewicht 
gegen die nachteiligen Wirkungen der 
Bevölkerungszunahme. Bastiat (1810 bis 
1850) nimmt an, daß die göttliche Welt- 
ordnung, sich selbst überlassen, zur Har- 
monie der Interessen führe und ist da- 
durch zum Ausgangspunkt für die Frei- 
handelslehre (§ 161 Anm. 6) geworden. 
6) Lassalle verwarf (1862) die auf 
Förderung des Fleißes u. der Sparsam- 
keit beruhende Selbsthilfe (§2 Anm. 9), 
weil der Arbeitslohn doch stets wieder 
auf den unerläßlichen Lebensbedarf des 
Arbeiters herabgedrückt werde (Anm. 5). 
Während er noch auf nationalem Boden 
stand, will Marx (1864) die moderne 
Staats= u. Gesellschaftsordnung durch die 
internationale Revolution stürzen u. durch 
die sozialistische Gesellschaft der Zukunft 
ersetzen. Beide Richtungen haben sich in 
dem s. g. Gothaer Programm vereinigt, 
welches die Bewegung zwar im nationalen 
Rahmen zuläßt, sie aber als internatio- 
nale, gegenseitig zu unterstützende, an- 
erkennt (1875).
	        
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