Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

156 8 20. Die Gesetzgebung (Legislative). 
tionierte und daraufhin verkündete Gesetz ordnungsmäßig 
entstanden ist. Dagegen unterliegt die Frage, ob die durch 
eine Verordnung getroffene staatliche Anordnung auf 
diesem Wege oder unter Zuziehung des Parlaments, d. h. 
durch formelles Gesetz, zu treffen war, der rich- 
terlichen Nachprüfung. 
Die heutige Bedeutung der Lehre von der Gewalten- 
teilung (S. 135) und die Unabhängigkeit des Gerichts zeigt 
sich gerade darin, daß die Gerichte nicht blindlings jede An- 
ordnung der Exekutive anzuwenden, sondern sie auf ihre Gesetz- 
mäßigkeit zu prüfen haben. Anderseits zwingt der gleiche Grund- 
satz den Richter, sich auf die ihm zur Entscheidung vorgelegte 
Straf= oder Zivilsache zu beschränken. Ist also jemand wegen 
Uebertretung einer Polizeiverordnung angeklagt, so hat der Rich- 
ter zu prüfen, ob diese rechtsgültig ist. Verneint er diese Vor- 
frage, so hat er den Angeklagten freizusprechen. Damit ist aber 
die Polizeiverordnung als solche nicht beseitigt und ein anderer 
Richter kann in einem anderen Falle zu einer Verurteilung ge- 
langen, weil er sie für rechtsgiltig erlassen hält. 
Die oben,„entwickelten Grundsätze kommen nur dann 
zur Anwendung, wenn das positive Staatsrecht keine Vor- 
schriften über diese Fragen aufweist. Solche Vorschriften 
fehlen im Reich. In Preußen dagegen ist durch PrV. 
Art. 106 II den Behörden eine Nachprüfung gehörig 
verkündeter Königlicher Verordnungen entzogen (S. 580); 
hier kann der Richter also nur die Tatsache der 
gehörigen Verkündung, nicht aber die Gesetzmäßigkeit einer 
Königlichen Verordnung nachprüfen, während den von 
anderen Behörden ergangenen Verordnungen, z. B. Po- 
lizeiverordnungen, gegenüber das Prüfungsrecht unbe- 
schränkt ist. 
In England, Belgien, Italien, Portugal, den Niederlan- 
den und der Schweiz ist das richterliche Prüfungsrecht gegenüber 
Gesetzen unzulässig, gegenüber Verordnungen zugelassen, in Nord- 
amerika dagegen wegen der hier besonders streng durchgeführten 
Gewaltenteilung auch gegenüber Gesetzen zulässig, und zwar auch 
hinsichtlich ihres verfassungsmäßigen Zustandekommens. Damit 
ist dem Richter freilich die Macht gegeben, die Gesetzgebung zu 
hindern. So hat das Bundesobergericht alle gesetzlichen Be- 
schränkungen der Arbeitszeit als der Verfassung widersprechend 
für nichtig erklärt und damit die Arbeiterfürsorgegesetzgebung 
gehindert. In Frankreich ist den Gerichten jede Nachprüfung 
eines Aktes der Legislative oder Exekutive verboten. Hier kann 
nur das Parlament eingreifen. 
J. Staaten, deren Staatsgewalt nicht souverän ist,
	        
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