§ 26. Der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich. 199
Am 9. Dezember 1870 erklärte der Bundesrat nach er-
folgter Verständigung aller Regierungen der den „Deutschen
Bund“ bildenden Staaten, daß der letztere den Titel „Deut-
sches Reich“ und der König von Preußen als Inhaber des
Präsidiums desselben den Titel „Deutscher Kaiser“ (nicht
Kaiser von Deutschland — doch heißt es in völkerrechtlichen
Verträgen stets: Empereur d’Allemagne) führen werde. Das
Deutsche Reich trat als solches mit dem 1. Januar 1871 in
Wirksamkeit; die (rechtlich bedeutungslose) Kaiserkrönung erfolgte
im Spiegelsaale des Schlosses zu Versailles am 18. Januar 1871.
Die Novemberverträge waren inzwischen den Verfassungskörpern
der Südstaaten und dem Reichstage des Norddeutschen Bundes
zur Annahme vorgelegt worden und erhielten diese (in Bayern
erst am 21. Januar 1871).
2. Die Verfassung des Deutschen Reiches beruhte nunmehr
auf den Novemberverträgen. Unter Zusammenfassung der Be-
stimmungen derselben wurde durch Reichsgesetz vom 16.
April 1871, und zwar als Anlage zu diesem Gesetz, eine „Ver-
fassungsurkunde für das Deutsche Reich“ verkündet, welche nur
den Zweck einer Redaktion der Novemberverträge hatte und diesen
gegenüber nur eine einzige materielle Anderung, nämlich den
Zusatz in Art. 8 III enthält, daß den (durch den bayerischen
Vertrag geschaffenen) Ausschuß für die auswärtigen Angelegen-
heiten (außer den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern,
Sachsen und Württemberg) „zwei vom Bundesrat alljährlich zu
wählende Bevollmächtigte anderer Bundesstaaten“ bilden sollen.
Viel wesentlicher sind die Anderungen der Reichsverfassung
gegenüber der Norddeutschen Bundesver fassung.
Eine äußerliche Anderung liegt darin, daß die Reichsverfassung
nur 78 Artikel enthält. Art. 79 der Norddeutschen Bundesverfas-
sung (S. 197) ist durch die Einbeziehung der Südstaaten gegen-
standslos geworden, Art. 80 der „Verfassung des Deutschen Bundes“
vom 15. November 1870 (S. 198) ist durch § 2 des (Einführungs)=
Gesetzes vom 16. April 1871 ersetzt. Von materiellen Ande-
rungen der RV. gegenüber der Verfassung des Norddeutschen Bun-
des sind — abgesehrn von den den Südstaaten eingeräumten
Sonderrechten (S. 210) — zu erwähnen: die Erweiterung des
Gebiets (Art. 1), die Erstreckung der Reichszuständigkeit auf die
Presse und das Vereinswesen (Art. 4 Nr. 16), die Erhöhung
der Zahl der Bundesratsmitglieder von 43 auf 58 (Art. 6)
und der Reichstagsmitglieder von 297 auf 382 (und nach Ein-
tritt der 15 Elsaß-Lothringischen Abgeordneten auf 397, Art.
20, S. 251), die Beschränkung des Kriegserklärungsrechts des
Präsidiums auf Verteidigungskriege (Art. 11), die Erschwerung
der Verfassungsänderung (welche im Norddeutschen Bunde nur
Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat erforderte, nach RV. Art.
78 dagegen als abgelehnt gilt, wenn sie auch nur 14 Stimmen
im Bundesrat gegen sich hat). Über die Anderungen der RV.
nach dem 16. ril 1871 siehe unten S. 202.
3. Der aus den Augustbündnissen hervorgegangene Nord-