Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

24 8 5. Die Staatsgewalt. 
(Organsouveränität — höchste Gewalt im Staate, 
Nürsten- bzw. Volkssouveränität, S. 66). Rußland und 
Belgien sind souveräne Staaten; in Rußland ist der Zar, 
in Belgien das Volk der Souverän. Im absolutistischen 
Staate warf man Staats-= und Fürstensouveränität zusammen. 
In diesem Sinne sagte Ludwig XIV.: L'Etat c'est moi; vgl. AL. 
II, 13, 1: „Alle Rechte und Pflichten des Staates gegen seine 
Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupt 
desselben“, und Friedrich Wilhelms I. berühmtes Wort (S. 85); 
„Ich stabiliere meine Souveraineté wie einen rocher von Bronze.“ 
8. Die Souveränität bezeichnet eine negative 
Eigenschaft der Staatsgewalt: das Fehlen der Be- 
schränkung durch einen fremden Willen. Die positive 
Folge dieser Eigenschaft ist die unbeschränkte Zu- 
ständigkeit des Staates auf allen Gebieten staatlicher 
Betätigung. Daher kann der Staat auf rechtlichem Gebiet 
jede ihm beliebende Rechtsnorm erlassen, auch unter Ver- 
letzung schon bestehender („wohlerworbener“) Rechte. Er 
kann insbesondere jedem neuen Gesetz rückwirkende 
Kraft verleihen. Eine andere Frage ist, ob er dies tun 
soll; das gehört in das Gebiet der Rechtspolitik; vgl. 
L. I § 7. Hat der Staat seine Zuständigkeit beschränkt, 
indem er gewisse Funktionen an andere Gebietskörper- 
schaften abgetreten hat, so kann er diese Selbstbeschränkung 
wieder aufgeben, seine Zuständigkeit also durch seinen 
eigenen Willen wieder ausdehnen (sog. Kompetenz- 
Kompetenz)zz vgl. für das Deutsche Reich (RB. Art. 78) 
unten S. 204. 
a. Nach außen hin (völkerrechtlich, gegenüber 
anderen souveränen Staaten) bedeutet die Souveräni- 
tät: die völlige Gleichstellung und Unabhängig- 
keit. 
Damit steht nicht in Widerspruch, daß auch der souveräne 
Staat durch Staatsverträge sich selbst binden kann; 
er kann hierzu aber nicht durch eine über ihm stehende, rechtlich 
begründete Gewalt gezwungen werden. Der völkerrechtliche — 
wie jeder sonstige — Vertrag bindet die Vertragsgegner, aber 
er unterwirft nicht den einen dem andern. Die Eigenart 
der völkerrechtlichen Verträge zeigt sich auch in ihrer grundsätz- 
lichen Unterstellung unter die Llausula rebus sic stanti- 
bus, während im Bürgerlichen Recht „veränderte Umstände“ in 
der Regel (vgl. aber z. B. BGB. 88 321, 610) bedeutungslos 
sind. Durch einen Staatsvertrag verpflichtet sich übrigens nur 
der Staat dem Staat als Vertragsgegner; eine unmittelbare
	        
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