42 § 59. Reichsfinanzwesen. Begriff und Geschichte.
staats (vgl. S. 204) folgt, daß die Finanzwirtschaft des Reichs
ihrem Wesen nach mehr Gesellschafts= als Staatswirtschaft ist.
Während bei der letzteren alle Einnahmen und Ausgaben nur
streng einheitlich sind, gibt es bei der ersteren einerseits
„gemeinschaftliche“ Ausgaben und Einnahmen (vgl. RV. Art. 70,
38), derart, daß bei sich ergebenden Defizits der Verlust von den
Mitgliedern gemeinschaftlich getragen werden muß (Matrikular-
beiträge, S. 457), anderseits aber auch Etatpositionen, welche
nicht allen Mitgliedern gemeinsam sind. Indessen darf nicht
übersehn werden, daß die dem Reiche gebührenden Leistungen
von den Einzelstaaten nicht auf Grund eines Vereinsstatuts, son-
dern kraft der dem Reiche gegen die Bundesstaaten zustehenden
Hoheitsrechte (S. 121) gefordert werden, insofern also das
staatswirtschaftliche Element überwiegt. Auch ist durch die Steuer-
gesetzggebungen von 1909 und 1913 die Finanzwirtschaft des
Reichs dem Systeme der selbständigen Staatswirtschaft erheblich
angenähert worden.
b. Die Geschichte der Reichsfinanzwirtschaft.
1. Nach Art. 70 (in der ursprünglichen Fassung) und Art. 73
der RV. sollten zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben
dienen:
a. in erster Reihe etwaige ÜUÜberschüsse der Vorjahre
sowic die gemeinschaftlichen Einnahmen aus den Zöllen, den
gemeinschaftlichen Berbrauchssteuern und dem Post-
und Telegraphenwesen;
ß. in zweiter Linie, „solange Reichssteuern nicht eingeführt
sind“, die atrikularbeiträgee:
7. endlich wurde für die Fälle eines außerordent-
lichen Bedürfnisses die Aufnahme einer Anleihe oder die über-
nahme einer Garantie zu Lasten des Reichs für zulässig erklärt.
2. Die RV. setzte hiernach die Einführung von Reichssteuern
zur Beschaffung der fehlenden Mittel voraus, so daß die Matri-
kularbeiträge nur eine vorübergehende Erscheinung, ein Not-
behelf sein sollten, und weiter waren die Anleihen nicht als regel-
mäßige Deckungsmaßnahmen gedacht. In beiden Beziehungen
vah Pdoch die Entwicklung des Reichsfinanzwesens einen andern
erlauf.
a. Zwar gelang 1878 die Einführung der Spielkartensteuer
und 1879 die Reform der Tabaksteuer sowie die, neben finan-
ziellen auch wirtschaftspolitische Ziele verfolgende (HI. IS##b 48s),
Zolltarifreform. Aber die finanzielle Selbständigkeit des Reichs
wurde, zumal in der Folge die Einführung des Tabak= und
später des Branntweinmonopols mißlang, nicht erreicht. Der
Grund hierfür lag in der verhängnisvollen, auf Verlangen des
Reichstags eingefügten Franckensteinschen Klausel, d. h.
dem § 8 des Rö. vom 15. Juli 1879, betr. den Zolltarif des
deutschen Zollgebiets und den Ertrag der Zölle und der Tabak-
steuer. Danach war vom 1. April 1880 ab derjenige Ertrag der
Zölle und der Tabaksteuer, welcher 130 Mill. M. jährlich überstieg,
den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bevölkerung, mit