§ 62. Geschichtliche Entwicklung. 479
(S. 213). Elsaß-Lothringen ist aber aus politischen Gründen als
Reichsland unmittelbar mit dem Reiche vereinigt
worden. Nach dem neuen Art. 6 a der NRV. gilt E.-L. im Sinne
der Art. 6 II, 7, 8 als Bundesstaat, ebenso im Sinne von BG#B.
und EG#BG. (GEWG. Art. 5); vgl. unten S. 488).
b. Die Verfassungsgeschichte von Elsaß-
Lothringen hat mehrfache Wandlungen durchgemacht.
1. Militärische Besetzung (1870—18719.
Bis zu der durch das oben erwähnte RG. vom 9. Juni
1871 herbeigeführten Vereinigung von E.-L. mit dem Reiche
unterstanden die späteren Reichslande nach völkerrechtlichen
Grundsätzen dem „Oberbefehlshaber der deutschen Heere“ auf
Grund der kriegerischen Okkupation. Dieser übertrug durch Erlaß
vom 14. August 1870 die Regierung dem „Generalgouver-
neur im Elsaß“, dessen Vollmacht die sämtlichen in der fran-
zösischen Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse umfaßte. Man kann
insofern eine be sondere Periode der militärischen
Okkupation (vom August 1870 bis Juni 1871) unterscheiden.
2. Diktatur (1871—1873).
Das RG. vom 9. Juni 1871 übertrug die Ausübung der
Staatsgewalt in E.-L. bis zum 1. Januar 1873 dem Kaiser; erst
dann sollte, abgesehen von dem sofort eingeführten Art. 3
(Indigenat), die RV. in Wirksamkeit treten. Durch RE. vom
20. Juni 1872 wurde die Einführung der Verfassung auf den
1. Januar 1874 verschoben. Bis dahin unterstand E.-L. also
der Diktatur des Kaisers, der jedoch bei Ausübung der
Gesetzgebung an die Zustimmung des Bundesrats
und bei Aufnahme von Anleihen auch an die Zustimmung des
Reichstags gebunden war. Verantwortlicher Minister war
der Reichskanzler in Berlin. Zugleich wurde diesem, als
oberste Instanz für die örtliche Verwaltung, ein Oberpräsi-
dent in Straßburg unterstellt, dem sodann durch besondere
Delegation die Befugnisse des Reichskanzlers zur unmittelbaren
Wahrnehmung übertragen wurden. Dieser hatte somit die tat-
sächliche, der Reichskanzler hingegen, bei welchem insbeson-
dere die konstitutionelle Verantwortlichkeit verblieb, die recht-
liche Stellung des Landesministers. Durch Erlaß vom 29. Ok-
tober 1874 wurde ferner ein Landesausschuß (s. u.) mit
begutachtender Stimme bei der Beratung der Gesetzentwürfe
und des Landeshaushaltsetats gebildet.
3. Bis zur Landesgesetzgebung (1874—1877).
Durch RG. vom 25. Juni 1873 wurde die RV. vom
1. Januar 1874 ab in E.-L. eingeführt. Die Landesgesetz-
gebung in E.-L. wurde nunmehr durch die gesetzgebenden
Faktoren des Reichs, Bundesrat und Reichstag, ausgeübt. Der
Kaiser verlor also das Gesetzgebungsrecht, ihm blieb jedoch mit
Zustimmung des Bundesrats unter gewissen Beschränkungen (R.
vom 25. Juni 1873 § 8) der Erlaß von Notstandsverord-
mungen mit Gesetzeskraft vorbehalten.
Heilfron, Staats= und Verwaltungsrecht. 32