§ 64. Geschichtliche Entwicklung. 491
gleichsweise sei daran erinnert, daß das Deutsche Reich (Anh. 1)
auf 540 858 qkm 61 925 993 Einwohner zählt (Volkszählung vom
1. Dezember 1910).
c. Der Erwerbstitel für die Schutzgebiete besteht regel-
mäßig in völkerrechtlicher Okkupation. Die von nicht zivili-
sierten Völkern bewohnten Flächen werden nämlich als herrenlos
angesehn (vgl. S. 63). Soweit mit den Häuptlingen Verträge
abgeschlossen sind, haben diese lediglich die Bedeutung, das Kolo-
nisationswerk zu erleichtern und das Verhältnis der Eingeborenen
und ihrer Häuptlinge zu dem okkupierenden Staate festzustellen.
Da bei der Aneignung die „Prävention“ entscheidet, so sind,
um Zwistigkeiten zwischen den bei der Kolonisierung beteiligten
Staaten zu vermeiden, durch (völkerrechtliche) Verträge (so z. B.
das Togoabkommen mit Frankreich, 1897, namentlich aber das
deutsch-englische Abkommen vom 1. Juli 1890 über die Abgren-
zung der beiderseitigen Interessensphären in Ost-, West= und
Südwestafrika) sog. Interessensphären festgestellt, d. h.
Bezirke, innerhalb welcher das Recht der Aneignung einem bestimm-
ten Staat ausschließlich zustehen soll (ius excludendi alios). Nach
Gerstmeyer und Arndt sollen solche Interessensphären bzgl. der
deutschen Schutzgebiete nicht mehr bestehn.
Nur das Ostafrikanische Küstengebiet mit der Insel Mafia
ist 1890 durch Vertrag vom Sultan von Sansibar erworben
worden (S. 490), und ebenso beruht der Erwerb des Kiautschou-
gebiets, der Karolinen usw. und Neukameruns, wie erwähnt,
auf Verträgen. Dabei ist mit Liszt und anderen die „Ven-
pachtung"“ von Kiautschou als eine verschleierte Abtretung an-
zusehn (S. 64, streitig).
d. Wie in der Erwerbung, so übte das Reich zunächst auch in
der Behandlung der erworbenen Gebiete große Zurückhaltung.
Man erteilte in Anlehnung an frühere englische und holländische
Vorbilder (Ostindische Kompanie) „Schutzbriefe“ an Kolonial=
gesellschaften, so an die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft und
die Neuguineakompagnie, unter Übertragung der Ausübung von
Hoheitsrechten und beschränkte sich auf Oberaufsicht und Schutz.
Dieses System ließ sich, da die Gesellschaften versagten, auf
die Dauer nicht durchführen, und heute übt das Reich in den
freilich immer noch sog. „Schutzgebieten“ selbst die Hoheitsrechte
aus. Seit 1906 (Dernburg) hat die deutsche Kolonialpolitik einen
neuen Aufschwung genommen. Die wirtschaftliche Erschließung
und der Bau von Eisenbahnen wird nachdrücklich gefördert,
und die der Verwaltung gestellten Aufgaben erfahren eine stän-
dige Vermehrung und Vertiefung; unter den Verordnungen der
Gouverneure finden wir Baupolizei-, Seuchenbekämpfungs-,
Schlachtvieh= und Fleischbeschau-, Markt-, Gewerbe= und Grund-
steuer-, Schulordnungen usw. Der Lage der eingeborenen Be-
völkerung wird erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet (z. B. Be-
kämpfung der Schlafkrankheit). In der Errichtung eines selbst-
ständigen Reichskolonialamts (S. 271) und des Hamburgischen