Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

8 70. Das Staatsgebiet. 529 
oder teilweise einem anderen Bundesstaate gewaltsam einzuver- 
leiben oder einen Teil desselben vom ganzen loszureißen. 
8. Veränderungen des Staatsgebiets selbst 
können hiernach nur durch Gesetz erfolgen. 
a. Grenzregulierungen im weiteren Sinne (vgl. 
oben S. 213) fallen hierunter, wenn ein Austausch, Erwerb oder 
Verlust von ihrer Begrenzung nach unstreitigen Gebietsteilen 
stattfindet (konstitutive Grenzregulierung), nicht auch, wenn es 
sich lediglich um Feststellung zweifelhafter Grenzen handelt 
(eklarative Grenzregulierung oder Grenzregulierung i. e. S.). 
b. Da Art. 2 ein Gesetz erfordert, so muß richtiger An- 
sicht nach auch die Gesetzes sorm (Art. 62, nicht die des ver- 
fassungsändernden Gesetzes, Art. 107) gewahrt werden; es ge- 
nügt also nicht die sormlose Genehmigung des die Gebietsverän- 
derung vereinbarenden Staatsvertrags. Die strengere Anschau- 
ung ist nach längerem Schwanken auch in der Praxis zur Herr- 
schaft gelangt; vgl. z. B. PrGS. 13 263 
c. Zweifelhaft ist die Behandlung einiger Sonderfälle: des 
Kondominats und der Unionen. Dabei ist davon auszugehen, daß 
die völkerrechtliche Vertretungsmacht des Königs (Art. 
48, S. 560) nach außen nicht beschränkt ist (S. 176). Staats- 
rechtlich (für das Innenverhältnis) ergibt sich folgendes: 
1) Das Kondominat (S. 22) ist eine Gebietshoheit zu 
gesamter Hand. Seine Begründung (z. B. 1864 über Schles- 
wig-Holstein und Lauenburg) enthält keine Veränderung der 
Staatsgrenzen und fällt daher nicht unter Art. 2. 
2) Personal= und Realunionen (S. 108) haben 
ebenfalls keine Gebietsveränderung zur Folge. Art. 2 ist deshalb 
richtiger Ansicht nach (Anschütz) auch hier unanwendbar. Eine 
andere Frage ist, ob eine vom König von Preußen herbeigeführte 
Personal= oder Realunion abgesehen von dem — nach dem vor- 
stehenden nicht in Betracht kommenden — Art. 2 der Zustim- 
mung des Landtags wegen Pr Vl. Art. 55 bedarf. Art. 55 lautet: 
„Ohne Einwilligung beider Kammern kann der König nicht 
zugleich Herrscher fremder Reiche sein“. Ob diese Vorschrift auch 
den Erwerb deutscher, oder nur den außerdeutscher Gebiete be- 
trifft, ist vor allem gelegentlich des Erwerbs des Elbherzogtums 
Lauenburg durch den König von Preußen (Gasteiner Vertrag, 
1865, S. 194) zwischen der preußischen Regierung und dem 
Gonbuts. S. 517) Abgeordnetenhause streitig geworden (s. u. 
530). 
Daß unter Umständen — abgesehen von Art. 2 und 55 — 
zu einer Union die Einwilligung des Landtags erforderlich werden 
kann, z. B. wegen Übernahme von Lasten (Art. 48) oder Ande- 
rung der Verfassungseinrichtungen (Art. 107), steht außer Frage. 
3) Die Union ist eine Verbindung mehrerer Staaten; sie 
setzt deren Selbständigkeit voraus (S. 106). Erwirbt der König 
als Oberhaupt des Staats Gebiete, die keine staatliche 
Selbständigkeit besitzen (Jadebusen) oder ihre Selbständigkeit 
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