Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

576 § 75. Der Landtag. 
den darf (sog. primatus iurisdictionis des Abgeordneten- 
hauses). Gesetzesvorschläge, welche durch eine der Kam- 
mern oder den König verworfen sind, können in derselben 
i nicht wieder vorgebracht werden (Art. 
4 1I). 
a. An den Art. 62 knüpft sich, wie bereits S. 147 ange- 
deutet, eine der berühmtesten Streitfragen des preußischen 
Staatsrechts, die in neuerer Zeit namentlich von Arndt (Das 
selbständige Verordnungsrecht, 02) und Anschütz (Die gegenwär- 
tigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Ge- 
walt, 2. A. 01) eingehend behandelt worden ist. Sie nimmt 
von der Auffassung des vor konstitutionellen Gesetzesbegriffs. 
ihren Ausgang. Der Begriff des Gesetzes ist weit älter 
als die Pr Vu. Vgl. z. B. ALR. Einl. I: „Von den Ge- 
setzen überhaupt“; daselbst besonders §§ 5 und 7; die KglV. 
vom 6. April 1848 über einige Grundlagen der preußischen 
Verfassung bestimmt: „Den künftigen Vertretern des Volks soll 
jedenfalls die Zustimmung zu allen Gesetzen .. zustehen“. 
Da die Pr V. und ihr formeller Gesetzesbegriff (S. 145) noch 
nicht vorhanden gewesen seien, habe hier — so folgert An- 
schütz — ein materieller Gesetzesbegriff zugrunde liegen müssen, 
nämlich Gesetz = Rechtssatz. „Gesetzgebende“ Gewalt i. S. des 
Art. 62 1 sei demnach soviel wie „rechtsetzende“ Gewalt. Art. 62 
stelle daher den Grundsatz auf, daß kein Rechtssatz anders als 
durch das Zusammenwirken aller gesetzgebenden Faktoren, d. h. 
durch ein formelles Gesetz, geschaffen werden könne; der 
der Verordnung sei, soweit er nicht ausdrücklich zugelassen sei 
(wie bei der Notverordnung, S. 578), für neu zu schaffende 
Rechtssätze ausgeschlossen. 
Anders Arndt. Nach ihm hatte der Gesetzesbegriff auch, 
im vorkonstitutionellen Staat eine formelle Bedeutung: Gesetz 
sei nicht schlechthin jede Rechtssatzung gewesen, sondern nur die 
von der höchsten Gewalt, dem König, erlassene, während die 
zahlreichen von den Behörden aufgestellten Rechtssätze als Re- 
gulative, Verordnungen usw. bezeichnet worden seien. Unter- 
der „gesetzgebenden" Gewalt im Sinne des Art. 62 sei daher 
nur die höchste rechtsetzende Gewalt zu verstehen. Art. 62 
besage nun nicht, daß jeder Rechtssatz ein formelles Gesetz, also 
die Mitwirkung der Kammern, voraussetze, sondern bestimme nur: 
sofern — nach den übrigen Verfassungsvorschriften — ein 
Gesetz als für die Entstehung eines Rechtssatzes für erforderlich 
erklärt sei, seien die Kammern zu befragen. Wann diese mit- 
zuwirken haben, das bestimme sich nicht nach Art. 62, sondern. 
den Einzelvorschriften in Art. 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9 usw. (Enume- 
rationstheorie). Bornhak (Preuß. Staatsrecht, 2. A. 11), 
der im übrigen der Arndtschen Ansicht nahesteht, will die Zu- 
ständigkeit der Gesetzggebung in Preußen — abgesehen von dem. 
sormellen Verfassungsrechte, den ausdrücklich der Gesetzgebung,
	        
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