Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

8 6. Das Wesen des Staates. 39 
a. In der Tat lassen sich Ahnlichkeiten zwischen dem 
menschlichen oder tierischen Organismus und dem Staatskörper 
nicht verkennen. 
Shenso wie der Mensch aus einer großen Zahl von Ein- 
heiten (Zellen) sich zusammensetzend nach außen hin als Ein- 
heit erscheint, und zwar immer als die gleiche Einheit, auch 
wenn seine einzelnen Bestandteile sich verändern oder durch 
andere ersetzt werden, ebenso erscheint der Staat nach außen hin 
als einheitliches Gebilde, hinter dem die Einzelpersonen, die 
seine Substanz bilden, so völlig verschwinden, daß ihr Fortfall 
und ihre Ersetzung durch andere bedeutungslos ist. 
Wie in dem physischen, so verbindet sich sonach auch im 
sozialen Organismus die Vielheit der Teile zur Ein- 
heit des Ganzen. Hierzu kommt aber noch eine weitere 
Analogie: wie im physischen, so herrscht auch im sozialen Orga- 
nismus eine wechsel seitige Abhängigkeit und Zweck- 
wirkung des Ganzen und seiner Teile. Die Zelle dient dem 
Gesamtorganismus und erhält und entwickelt sich in und mit 
diesem weiter. 
Endlich tritt im biologischen wie im sozialen Organismus 
mit seiner Fortentwicklung zu höherer Stufe eine immer zu- 
nehmende Arbeitsteilung der Organe, eine Differen- 
zierung der Funktionen ein. 
b. Diesen die organologische Theorie stützenden Umständen 
wird von den Vertretern anderer Ansichten entgegengehalten: 
Die wissenschaftliche Behandlung des Staates als eines 
dem tierischen ähnlichen Organismus scheitere zunächst an der 
Unbestimmtheit des Begriffes Organismus. Die- 
ser Begriff sei der Naturwissenschaft entlehnt. In dieser selbst 
aber sei der Begriff außerordentlich streitig. Die Anhänger des 
Mechanismus erblickten in den organischen wie in den 
anorganischen Gebilden das Ergebnis von mechanischen Pro- 
zessen, von ziellosen Bewegungsvorgängen chemischer und phy- 
sikalischer Natur, während die Anhänger des Vitalismus 
diese Gleichstellung leugnen und behaupten, daß Organismus 
ein Gebilde sei, in dem eigene zwecksetzende (teleologische) Trieb- 
kräfte (Dominanten), eigene Energie= und Lebenskräfte tätig 
seien, die die Fortentwiskelung in einer von den Naturkräften 
unabhängigen Weise beeinflussen. Ein so streitiger Begriff sei 
aber nicht geeignet, als Grundlage wissenschaftlicher Forschung 
zu dienen. 
Ferner lebe die von den Organologen konstruierte reale 
Verbandspersönlichkeit nur in der Idee. In Wirklichkeit lasse 
sich keine Gesamtpsyche, kein Gemeinbewußtsein oder Gemeinwille 
nachweisen. 
Endlich seien die Ahnlichkeiten zwischen dem lebendigen und 
dem sozialen Organismus nur äußerlicher Natur und ihnen 
stünden tiefgreifende innere Unterschiede entgegen. Es sei nicht 
richtig, daß die Volksgenossen zu einander in einem gleichen 
 
	        
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