Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

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4. Ich selbst trete der Ansicht derer bei, die der Meinung sind, die Stämme 
Germaniens seien dadurch, daß sie nicht durch Ehen mit anderen Völkerschaften 
fremdes Blut in sich aufnahmen, zu einem selbständigen, reinen und nur sich selbst 
ähnlichen Volke geworden. Deshalb ist auch die Körperbeschaffenheit trotz der un- 
geheuren Menschenmenge dieselbe bei allen: trotzige blaue Augen, rötliches Haar, 
große Leiber, doch nur zu raschem Angriff kräftig. Gegen Anstrengung und 
Arbeit zeigen sie nicht die gleiche Ausdauer und am wenigsten, wenn es gilt, 
Durst und Hitze zu ertragen. An Kälte und Hunger haben Klima und Boden sie 
gewöhnt. 
5. Das Land, obwohl es ziemliche Abwechslung darbietet, ist im ganzen doch 
von rauhen Wäldern oder schmutzigen Sümpfen bedeckt; der Nässe ist es mehr 
nach Gallien, den Winden mehr nach Noricum und Pannonien:) hin ausgesetzt. 
Für Getreidesaat ist es ergiebig; doch Obstbäume trägt es nicht. Vieh bringt es 
viel hervor; doch ist dieses meistens unansehnlich. Nicht einmal das Rindvieh 
behauptet seine stattliche Gestalt und den Schmuck der Stirne; nur die Zahl 
freut sie; das ist ihr einziger, liebster Schatz. Ob Silber und Gold Huld oder 
Zorn der Götter ihnen versagt hat, weiß ich nicht. Doch möchte ich nicht be- 
haupten, daß keine Gebirgsader Germaniens Silber oder Gold hervorbrächte; 
denn wer hat danach gesucht? Besitz und Gebrauch wirkt auf sie nicht wie sonst. 
Man kann bei ihnen silberne Gefäße, die ihre Gesandten und Fürsten als Ge- 
schenke erhielten, neben irdenem Geschirr zu gleich niedrigem Dienste bestimmt 
sehen, obwohl die Grenzstämme wegen des Handelsverkehrs Gold und Silber zu 
schätzen wissen und einige von unseren Geldstempeln anerkennen und darunter 
wählen. Die Binnenvölker treiben nach einfacher, alter Art Tauschhandel. Das 
Geld gefällt ihnen, wenn es alt und lange bekannt ist: Denare mit zackigem 
Rande oder mit dem Bigastempel?). Auch gehen sie mehr auf Silber als auf 
Gold aus: keineswegs aus besonderer Vorliebe, sondern weil die größere Zahl 
der Silbermünzen ihnen zum Gebrauch bequemer ist, da sie gewöhnliche und 
billige Waren einhandeln. 
6. Selbst Eisen haben sie nicht im Uberfluß, wie aus der Art ihrer Waffen 
zu schließen ist. Wenige brauchen Schwerter oder größere Lanzen; Speere oder, 
wie sie sie nennen, Frameen führen sie, mit einer schmalen und kurzen Eisen- 
spitze, so scharf jedoch und zum Gebrauch so handlich, daß sic mit derselben Waffe, 
je nachdem es die Umstände erfordern, aus der Nähe sowohl wie aus der Ferne 
kämpfen. Der Reitersmann begnügt sich mit Schild und Framea; die Fußkämpfer 
entsenden auch Wurfgeschosse, jeder mehr als eines, und schleudern sie unglaublich 
weit, nackt oder in einem leichten Mantel. Prahlerischen Schmuck kennen sie 
nicht; nur die Schilder bemalen sie mit den gewähltesten Farben. Wenige haben 
Panzer, kaum einer oder der andere eine Pickelhaube oder einen Helm. Die 
Pferde sind nicht durch Gestalt, nicht durch Schnelligkeit ausgezeichnet. Ja, nicht 
einmal zum Voltenmachen, wie es bei uns Sitte ist, werden sie geschult; sie 
lassen sie geradeaus oder in ununterbrochener Schwenkung rechts herum gehen, 
in einem so fest geschlossenen Kreise, daß keiner der letzte ist. Im allgemeinen zu 
  
1) Noricum und Pannonien waren römische Provinzen südlich von der Donau und 
östlich vom Inn. 
„) Der Denar (70 Pf.) war die Hauptsilbermünze der Römer; seit etwa 100 v. Chr. 
wurden in größerer Menge Stücke mit gezacktem Rande ausgeprägt. Auf der Rückseite 
zeigten manche Prägungen das Bild einer Göttin auf einem Zwiegespann oder einer biga.
	        
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