Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

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nehmen konnte, ohne von der Sesselreihe aufzustehen. Und zuerst trat herein 
der Truchseß des Attila; er trug eine Tafel voll Fleisch, und die Diener, welche 
allen aufwarteten, setzten nach ihm Brot und Zukost auf die Tische. Den anderen 
Barbaren und uns wurden leckere Gerichte zugerichtet, welche auf silbernen 
Scheiben lagen, für den Attila aber lag auf der hölzernen Tafel nichts als Fleisch. 
Mäßig erwies er sich auch in allem übrigen; denn den Männern des Mahles 
wurden goldene und silberne Becher gegeben, sein Trinkgefäß war von Holz. 
Schlicht war auch sein Gewand; es zeigte keine andere Sorgfalt, als daß es rein 
war; auch sein umgegürtetes Schwert und die Bänder der Barbarenschuhe, auch 
das Geschirr des Rosses waren nicht, wie bei den übrigen Skythen:), mit Gold 
oder Steinen oder anderen Kostbarkeiten geschmückt. Und als die Speisen des 
ersten Ganges verzehrt waren, standen wir alle auf, und nicht eher kam der 
Stehende in den Sessel, als bis nach der früheren Reihenfolge jeder einen vollen 
Becher Wein, der ihm gereicht wurde, austrank und für Attila Heil erflehte. Als 
er auf diese Weise geehrt war, saßen wir nieder, und jedem Tisch wurde die 
zweite Tafel aufgesetzt, welche andere Gerichte hatte. Nachdem sich alle auch von 
diesen bedient hatten, standen wir auf dieselbe Weise auf, tranken wieder aus und 
setzten uns. Als es Abend wurde, zündete man Fackeln an, und zwei Barbaren, 
welche dem Attila gegenübertraten, sagten selbstverfaßte Lieder her, worin sie 
seine Siege und Kriegstugenden besangen. Auf die Sänger schauten die Gäste; 
die einen freuten sich über die Gedichte; die anderen dachten an ihre Kämpfe und 
wurden begeistert; manche aber weinten, denen durch die Zeit der Leib kraftlos 
geworden war und der wilde Mut zur Ruhe gezwungen?). 
Nach den Gesängen trat ein skythischer Narr ein, welcher Seltsames, Un- 
sinniges und Albernes herausstieß und allen Gelächter erregte. Nach ihm erschien 
Zerkon, der Maurusiers), lächerlich durch seine Häßlichkeit und sein Stammeln; 
denn er war zwerghaft, buckelig, krumm von Beinen, mit einer Nase, die so auf- 
gestülpt war, daß man sie kaum vor den Nasenlöchern ah Er erregte allen 
durch Aussehen, Tracht, Stimme und die zusammengestoppelte Rede, welche 
Lateinisch, Hunnisch und Gotisch durcheinander mengte, ein unauslöschliches Ge- 
lächter. Nur dem Attila nicht. Denn dieser blieb unverändert und sein Antlitz ohne 
Bewegung, und weder im Wort, noch im Tun zeigte er Heiterkeit, außer daß er 
den jüngsten seiner Söhne, als dieser eintrat und zu ihm kam, an der Wange zog 
und mit freundlichen Augen anblickte. Als ich mich aber wunderte, daß er die 
anderen Kinder nicht beachte und für dieses Neigung habe, erzählte mein Tisch- 
nachbar, ein Barbar, welcher der lateinischen Sprache kundig war und mich zuvor 
ermahnt hatte, nichts von seinen Reden weiter zu sagen, daß die Wahrsager dem 
Attila verkündigt hätten, sein Geschlecht werde herunterkommen, durch diesen Sohn 
aber wieder erhöht werden. Als sie das Gelag in die Nacht hineinzogen, wollten 
wir endlich dem Trunk nicht mehr Bescheid tun und entfernten uns. 
1) Die Byzantiner nannten alle Völker nördlich von der Donau Skythen. 
:) Die beiden „Barbaren“ waren vermutlich Ostgoten. Priskos überliefert hier eines 
der wenigen Beispiele, die uns zeigen, wie sehr die alten, heute verschollenen Helden- 
gesänge die Herzen der Hörer erbeben ließen, und wie die Heldendichtung aus dem Lied 
erwachsen ist, das zum Ruhme des Königs in seiner Methalle erscholl. 
*) Maurusier nannte man die Bewohner Mauretaniens, des etwa dem heutigen 
Marokko entsprechenden Teils von Nordafrika.
	        
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