IV.
Im neuen Reich.
67.
Die Eröffnung des ersten deutschen Reichstages.
21. März 1871.
Quelle: Die Thronrede Kaiser Wilhelms I.
Fundort: L. Hahn, Kaiser Wilhelms Gedenkbuch. S. 383 und 384.
Geehrte Herren!
Wenn ich nach dem glorreichen, aber schweren Kampfe, den Deutschland für
seine Unabhängigkeit siegreich geführt hat, zum erstenmale den deutschen Reichs-
tag um mich versammelt sehe, so drängt es mich vor allem, meinem demütigen
Danke gegen Gott Ausdruck zu geben für die weltgeschichtlichen Erfolge, mit denen
seine Gnade die treue Eintracht der deutschen Bundesgenossen, den Heldenmut
und die Manneszucht unserer Heere und die opferfreudige Hingebung des deutschen
Volkes gesegnet hat. ·
Wir haben erreicht, was seit der Zeit unserer Väter für Deutschland erstrebt
wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unserer
Grenzen, die Unabhängigkeit unserer nationalen Rechtsentwicklung.
Das Bewußtsein seiner Einheit war in dem deutschen Volke, wenn auch ver—
hüllt, doch stets lebendig; es hat seine Hülle gesprengt in der Begeisterung, mit
welcher die gesamte Nation sich zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes erhob
und in unvertilgbarer Schrift auf den Schlachtfeldern Frankreichs ihren Willen
verzeichnete, ein einiges Volk zu sein und zu bleiben.
Der Geist, der in dem deutschen Volke lebt und seine Bildung und Gesittung
durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reiches und seine Heereseinrichtungen
bewahren Deutschland inmitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung zum Miß-
brauche seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft. Die Achtung, welche
Deutschland für seine eigene Selbständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es bereit-
willig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, den schwachen, wie
den starken. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen
Krieges hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens
sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen
Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufrieden-
stellendes Erbteil zu bewahren
Der ehrenvolle Beruf des ersten deutschen Reichstages wird es zunächst sein,
die Wunden nach Möglichkeit zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und den
Dank des Vaterlandes denen zu betätigen, welche den Sieg mit ihrem Blut und
Leben bezahlt haben; gleichzeitig werden Sie, geehrte Herren, die Arbeiten be-
ginnen, durch die die Organe des Deutschen Reiches zur Erfüllung der Aufgabe
zusammenwirken, welche die Verfassung Ihnen stellt: zum Schutze des in Deutsch-
land gültigen Rechtes und zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkee
Die Lage der für Deutschland rückerworbenen Gebiete wird eine Reihe von
Maßregeln erheischen, für die durch die Reichsgesetzgebung die Grundlagen zu
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