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einer dritten Macht oder sonstwie Osterreich-Ungarn oder Italien genötigt wären,
den Statusquo durch eine zeitweilige oder dauernde Besetzung ihrerseits zu ver—
ändern, so würde diese Besetzung nur stattfinden nach einer vorangehenden Über-
einkunft zwischen den beiden Mächten, welche auf dem Prinzip einer gegenseitigen
Kompensation für alle territorialen oder anderweitigen Vorteile, die eine jede
von ihnen über den gegenwärtigen Statusquo hinaus erlangen würde, zu be-
ruhen und die Interessen und berechtigten Ansprüche der beiden Teile zu be-
friedigen hätte.
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Grundsätze der deutschen Kolonialpolitik.
1884.
Quelle: Rede Bismarcks im Reichstage vom 26. Juni 1884.
Fundort: L. Hahn, Fürst Bismarck. Bd. 5. S. 47—50.
Was die Kolonialfrage im engeren Sinne anlangt, so wiederhole ich die
Genesis derselben, wie ich sie damals angegeben habet). Wir sind zuerst durch die
Unternehmung hanseatischer Kaufleute?), verbunden mit Terrainankäufen und ge-
folgt von Anträgen auf Reichsschutz, dazu veranlaßt worden, die Frage, ob wir
diesen Reichsschutz in dem gewünschten Maße versprechen könnten, einer näheren
Prüfung zu unterziehen. Ich wiederhole, daß ich gegen Kolonien, — ich will
sagen nach dem System, wie die meisten im vorigen Jahrhundert waren, was
man jetzt das französische System nennen könnte — gegen Kolonien, die als
Unterlage ein Stück Land schaffen und dann Auswanderer herbeizuziehen suchen,
Beamte anstellen und Garnisonen errichten, — daß ich meine frühere Abneigung
gegen diese Art Kolonisation, die für andere Länder nützlich sein mag, für uns
aber nicht ausführbar ist, heute noch nicht aufgegeben habe. Ich glaube, daß man
Kolonialprojekte nicht künstlich schaffen kann, und alle Beispiele, die der Herr
Abgeordnete Bamberger in der Kommission als abschreckend anführte, waren
darauf zurückzuführen, daß dieser falsche Weg eingeschlagen war, daß man ge-
wissermaßen einen Hafen hatte bauen wollen, wo noch kein Verkehr war, eine
Stadt hatte bauen wollen, wo noch die Bewohner fehlten, wo dieselben erst
künstlich herbeigezogen werden sollten.
Etwas ganz anderes ist die Frage, ob es zweckmäßig, und zweitens, ob es die
Pflicht des Deutschen Reiches ist, denjenigen seiner Untertanen, die solchen Unter-
nehmungen im Vertrauen auf des Reiches Schutz sich hingeben, diesen Reichs-
schutz zu gewähren und ihnen gewisse Beihilfen in ihren Kolonialbestrebungen zu
leisten, um denjenigen Gebilden, die aus den überschüssigen Säften des gesamten
deutschen Körpers naturgemäß herauswachsen, in fremden Ländern Pflege und
Schutz angedeihen zu lassen. Und das bejahe ich, allerdings mit weniger Sicherheit
vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit — ich kann nicht voraussehen, was daraus
wird — aber mit unbedingter Sicherheit vom Standpunkte der staatlichen Pflicht.
Ich kann mich dem nicht entziehen. Ich bin mit einem gewissen Zögern an
die Sache herangetreten und habe mich gefragt: „Womit könnte ich es recht-
fertigen, wenn ich diesen Unternehmungen, über deren Mut — ich habe die
1) In einer Sitzung des Reichstagsausschusses.
2) Bismarck denkt hier in erster Linie an die Unternehmungen und Erwerbungen
des Bremer Kaufmanns Lüderitz in Südwestafrika.