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Wir sind jetzt in der Notwehr, und Not kennt kein Gebot. Unsere Truppen
haben Luxemburg besetzt, vielleicht auch schon belgisches Gebiet betreten müssen.
Das widerspricht dem Gebot des Völkerrechts. Die französische Regierung hat
zwar in Brüssel erklärt, die Neutralität Belgiens respektieren zu wollen, solange
sie der Gegner respektiere. Wir wußten aber, daß Frankreich zum Einfall bereit
stand. Frankreich konnte warten; wir aber nicht, und ein französischer Einfall in
unsere Lande am Unterrhein hätte verhängnisvoll werden können. So waren wir
gezwungen, uns über die Proteste der luxemburgischen und belgischen Regierung
hinwegzusetzen. Das Unrecht, das wir damit tun, werden wir gutzumachen suchen,
sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer wie wir um das Höchste kämpft,
mag nur daran denken, wie er sich durchhaut.
Meine Herren, wir stehen Schulter an Schulter mit Osterreich-Ungarn.
Was England anbetrifft, so haben die Erklärungen, die Sir Edward Grey ab-
gegeben hat, den Standpunkt dargestellt, den die englische Regierung einnimmt.
Wir haben der englischen Regierung die Erklärung abgegeben, daß, sobald sich
England neutral hält, unsere Flotte die Nordküste Frankreichs nicht angreifen wird
und dafür die territoriale Integrität und Unabhängigkeit Belgiens nicht antasten
wird. Diese Erklärung wiederhole ich hiermit vor aller Welt, und ich kann hin-
zusetzen, daß, sobald England neutral bleibt, wir auch bereit sind, im Falle der
Gegenseitigkeit keine feindliche Operation gegen die französische Handelsschiffahrt
vorzunehmen.
Meine Herren, soweit die Vorgänge. Ich wiederhole das Wort des Kaisers:
„Mit reinem Gewissen zieht Deutschland in den Kampf.“ Jetzt geht es um die
Früchte unserer friedlichen Arbeit, um unsere große Vergangenheit und um
unsere Zukunft. Vierzig Jahre sind vergangen, daß Moltke sprach, daß wir größer
dastehen müssen, um die Früchte von 1870 zu verteidigen. Jetzt hat die große
Stunde der Erhebung für unser Volk geschlagen. Aber mit heller Zuversicht ziehen
wir ihr entgegen. Unsere Armee steht im Felde; unsere Flotte ist kampfbereit;
hinter ihr das ganze deutsche Volk. Sie, meine Herren, kennen Ihre Pflicht in
ihrer ganzen Größe. Die Vorlagen bedürfen keiner Begründung mehr; ich bitte
um ihre schleunige Erledigung.
113.
Die Vertretung des deutschen Volkes und der Krieg.
4. August 1914.
Quelle: Bericht über die zweite Sitzung des Reichstages
am 4. August 1914.
Fundort: Hannoverscher Courier vom 5. August 1914 (morgens). Nr. 31 268.
Am Bundesratstische der Reichskanzler, die Minister und die Bevollmächtigten
des Bundesrates.
Präsident Dr Kaempf eröffnet um 5,15 Uhr die Sitzung und weist darauf
hin, daß manche Mitglieder des Hauses sich entschuldigen lassen, weil sie bereits
zu den Fahnen geeilt sind und Berlin nicht mehr rechtzeitig erreichen konnten.
Auf der Tagesordnung stehen ausschließlich Kriegsvorlagen. An erster Stelle
ein Antrag, der den Reichskanzler ermächtigt, zur Bestreitung der Kriegsbedürfnisse
5 Milliarden Mark aus Krediten flüssig zu machen und aus dem Gold- und
Silberbestande des Reiches 300 Millionen