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Meine Reise also glich in und von Ems bis hier einem Triumphzuge; ich habe
so etwas nicht geahnt, nicht für möglich gehalten. Alle Bahnhöfe überfüllt, auch
die, wo nicht gehalten wurde; in Kassel eine Adresse des Magistrates, in Göttingen
die ganze Universitätsjugend; von Braunschweig hatte ein Extrazug Hunderte von
Menschen nach meiner Station gebracht; in Magdeburg waren alle Wagen und
Transportwagen mit Menschen besetzt; in Potsdam der Perron Kopf an Kopf,
und nun hier! Eine solche Masse Menschen und Wagen alle aufgefahren neben-
einander vom Bahnhof, Anhaltstraße, Königgrätzer Straße bis zum Brandenburger
Tor und unter den Linden auf der anderen Seite, alle Fenster voller Menschen,
Illumination und an dem Palais unabsehbar Menschen, denen ich mehrere Male
am Fenster und unter der Veranda (mich] zeigen mußte, und noch diesen Moment,
½11 Uhr, dauert das Singen und Schreien fort!! Mich erfüllt eine komplette
Angst bei diesem Enthusiasmus; denn was für Chancen bietet nicht der Krieg, wo#“
all dieser Jubel oft verstummen könnte und müßte! — In Brandenburg kam mir
Fritz, Bismarck, Roon und Moltke entgegen! Wir besprachen die ganze Lage, und
ich setzte für morgen ein Konseil an, nicht ahnend, was mir bei der Ankunft
bevorstand! Vom Feldmarschallu), Generalen, Magistrat wurde ich empfangen und
trat mit ihnen in das Zimmer, diese Personen zu begrüßen, als Bismarck ein
Telegramm öffnete — die Kriegserklärung stand im Wolffschen Telegramm,
worauf Thiele eines vorlas, das die vollständigen Details bereits enthielt)!
Denke Dir meinen Eindruck, solche Nachricht beim ersten Schritt in die
Residenz! Natürlich war der erste Gedanke, sofort mit der Mobilmachung der
ganzen Armee zu antworten, was sofort besprochen und befohlen wurde!!] Und
jetzt sind die Befehlstelegramme schon nach allen Seiten fort! Und ebenso sind
die Süddeutschen aufgefordert, das gleiche zu tun, von denen heute noch die aller-
besten Aussprüche eingingen und auch von einem völligen Enthusiasmus dort be-
richtet wird! Kurzum, es ist ein Nationalgefühl, wie man es wohl niemals so all-
gemein und gleich erlebt hat! — Aber welche Erwartungen werden mir auf-
gebürdet! Wie wird ihnen entsprochen werden können?! Gott mit uns!
Dein treuester, tief ergriffener Freund Wlilhelm)].
50.
Die Eröffnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes.
19. Juli 1870.
Quelle: Thronrede König Wilhelms I.
Fundort: Aegidi und Klauhold a. a. O. Bd. 19. Nr. 4056.
Geehrte Herren vom Reichstage des Norddeutschen Bundes!
Als ich Sie bei Ihrem letzten Zusammentreten an dieser Stelle im Namen der
verbündeten Regierungen willkommen hieß, durfte ich es mit freudigem Dank be-
zeugen, daß meinem aufrichtigen Streben, den Wünschen der Völker und den Be-
dürfnissen der Zivilisation durch Verhütung jeder Störung des Friedens zu ent-
sprechen, der Erfolg unter Gottes Beistand nicht gefehlt habe.
1) Der alte Wrangel.
)DTdhiele war Unterstaatssekretär im Ministerium des Auswärtigen. Wolfftelegramm
ist ein Telegramm des Wolffschen Telegraphenbüros. König Wilhelm erhielt damals die
Nachricht von der französischen Mobilmachung und der Kriegsrede, die der französische
Ministerpräsident Ollivier an demselben Tage im Gesetzgebenden Körper gehalten hatte.