Systematische
Grundgedanken.
84 RUDOLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
brochen im Fluß ist, stetig den Überzeugungen und Forderungen der Gegen-
wart sich anpaßt. Das Recht muß frei sein von dem Gesetzesbuchstaben, der
gestern geschrieben wurde. Das Gesetz bedeutet die Richtschnur für Wissen-
schaft und Praxis, und doch muß aus dem Brunnen des Gesetzes immer neues,
nämlich das der Gegenwart entsprechende Recht geschöpft werden. Die Wissen-
schaft ist es, die solches Zauberwerk vollbringt. Sie lehrt, aus dem Gesetze, dem
äußerlich unveränderlichen, das Recht hervorbringen, das ewig veränderliche.
Sie lehrt Gesetzesanwendung, die zugleich Gesetzesfortentwickelung einschließt.
Genau das gleiche ist für den Einzelfall die Aufgabe der Praxis. Die praktische
Rechtshandhabung ist, ebenso wie die wissenschaftliche Bearbeitung, nicht
mechanisches Handwerk, sondern hohe Kunst, aus dem Rohstoff des Gesetzes
schöpferisch das Meisterwerk des gegenwärtig gerechten Rechts zu zeugen.
Für solche Künstlerarbeit bietet das Gesetzbuch den edlen, feinkörnigen,
widerstandsfähigen und gerade darum bildsamen Stoff. Die Marmorstatue ist
in diesem Marmorblock darin. In großen Leitgedanken ruht das Recht des
Gesetzbuchs. Sie geben seinem Inhalt Kraft und Richtung. Sowie man sie be-
rührt, verwandelt das Schweigen der Paragraphen sich in Wohlklang. In der
Arbeit an der Ausgestaltung dieser Grundgedanken wurzelt die Gabe der mit
der Praxis verbündeten Wissenschaft, dem Rechte des Gesetzes die ewige
Jugend mitzuteilen, die sie selbst besitzt.
Das ist es gerade, was das Gesetzbuch will. Um der Wissenschaft und
Praxis Raum für die Entfaltung ihrer Kräfte zu geben, ist es über seine eigenen
Grundbegriffe schweigsam. Das Recht soll nicht in den Paragraphen einge-
kerkert sein. Ein breiter, von der Wissenschaft durch Entwickelung der Grund-
gedanken auszufüllender Raum steht zwischen den Paragraphen offen. Überall
ist Bahn für das Recht der Zukunft. Luft der Freiheit geht durch das Gesetzes-
werk. Noch nie hat ein Gesetzbuch mit solcher Straffheit der Form so reiche
Entwickelungsfähigkeit seines Inhalts verbunden.
System des bürgerlichen Rechts.
Das bürgerliche Gesetzbuch gliedert seinen Stoff in fünf Bücher. Das erste
Buch behandelt den sog. allgemeinen Teil, das zweite Buch das Recht der
Schuldverhältnisse, das dritte das Sachenrecht, das vierte Buch das Familien-
recht, das fünfte das Erbrecht.
Der allgemeine Teil (das erste Buch) ist den für alle Privatrechtsverhält-
nisse geltenden Rechtssätzen gewidmet. Hier ist die Rede von der Person als
dem rechtsfähigen Subjekt, von ihren Rechtsgeschäften und von dem Schutze
ihrer Rechte.
Das Schuldrecht und das Sachenrecht (zweites und drittes Buch) handeln
von den Vermögensrechten der Person, d. h. von denjenigen Privatrechten, die
dem einzelnen als solchem kraft verkehrsmäßigen Tatbestandes zuständig sind: