Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

System des bürgerlichen Rechts. D. Das Familienrecht. 129 
Für den neuzeitlichen Staat ward bald die Frage nach der Schaffung eines Notwendigkeit 
selbständigen weltlichen Eherechts brennend. Solange innerhalb des Staates ae, 
ein einziges Glaubensbekenntnis das herrschende war, machte die Geltung 
des kirchlichen Eherechts in der Regel keine Schwierigkeiten: im katholischen 
Lande galt das katholische, im protestantischen das protestantische Eherecht, 
in Einklang mit den Rechtsüberzeugungen der Landesangehörigen. Erst als 
der neuzeitliche Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit sich praktisch 
geltend machte, stellten sich Unzuträglichkeiten heraus. In Deutschland waren 
durch die politischen Umwälzungen im Beginn des 19. Jahrhunderts alle größe- 
ren Staaten paritätisch geworden. Das katholische und das protestantische 
Glaubensbekenntnis standen gleichberechtigt innerhalb desselben Staates neben- 
einander. Die Freizügigkeit im Deutschen Reiche förderte die Mischung der 
Glaubensbekenntnisse. Die Mischehen nahmen zu. Welches Recht sollte für 
die Mischehe gelten? Das katholische oder das protestantische Eherecht? Be- 
stand die Möglichkeit der Ehescheidung, wenn ein Teil katholisch war, oder 
nicht? Die Frage war auf dem Boden des überlieferten kirchlichen Rechtes 
unlösbar. Überdies gab es Dissidenten, die zu keiner anerkannten Kirche ge- 
hörten. Das bisherige konfessionelle Eherecht erwies sich als durchaus unzu- 
länglich. Die Notwendigkeit, ein staatliches, konfessionsloses, für die Staats- 
angehörigen als solche geltendes Eherecht zu schaffen, war gegeben. In dieser 
Richtung war schon das preußische Landrecht, dann das französische bürger- 
liche Gesetzbuch Napoleons vorgegangen. Der code civil hatte bereits, im An- 
schluß an die Gesetzgebung der Revolution (und noch frühere Vorgänge in den 
Niederlanden und England) die obligatorische Zivilehe eingeführt. Die deut- 
sche Reichsgesetzgebung stand vor derselben Frage. Das Personenstandsgesetz 
vom 6. Februar 1875 machte den Anfang: es führte die obligatorische Zivilehe 
ein und umschrieb den Kreis der Ehehindernisse von Reichsrechts wegen. Dem 
bürgerlichen Gesetzbuch fiel dann die Aufgabe zu, die Entwickelung zur Voll- 
endung zu bringen, ein vollständiges bürgerliches Eherecht für das Deutsche 
Reich zum Dasein zu förden. 
Hinter den praktischen Fragen, die den Staat zum Ein#hreiten nötigten, Die Frage d»s 
stand eine andere große Frage, grundsätzlicher Art, die zugleich zur Entschei- ".." 
dung gebracht werden mußte. Diese Frage lautet: gibt es und soll es geben 
ein christliches Eherecht? Ja, ganz allgemein: gibt es und soll es geben ein 
christliches Recht? 
Die katholische Kirche antwortet auf diese Frage mit einem runden Ja. 
Sie erklärt sich selbst zugleich für die alleinberufene Gestalterin und Auslegerin 
des christlichen Rechtes. Ihr kanonisches Recht ist das christliche Recht. Es 
wurzelt in der göttlichen Offenbarung und in der Auslegung, welche die katho- 
liche Kirche von der göttlichen Offenbarung gibt. Es ist teils unmittelbar, teils 
mittelbar göttlichen Ursprungs und hat daher den Vorrang vor allem weltlichen 
Recht in Anspruch zu nehmen. Vor allen Dingen gilt das von der kirchlichen 
Gesetzgebung über geistliche Dinge. Ein geistlich Ding, ein Sakrament, ist 
nach katholischer Lehre auch die Ehe. Das kanonische Recht der katholischen 
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 9
	        
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