Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

130 RupoLpH SOHM: Bürgerliches Recht. 
Kirche von der Ehe ist nach katholischer Lehre das religiös allein mögliche und 
geforderte Eherecht. Alle weltliche Ehegesetzgebung muß vor der im Namen 
Gottes redenden Gesetzgebung der katholischen Kirche verstummen. 
In milderen Formen tritt die protestantische Kirche auf. Luther hatte 
die Ehe für ein weltlich Ding erklärt. Dennoch ist, und zwar nicht ohne seine 
Mitwirkung, auch in der protestantischen Kirche geistliche, dem ‚‚christlichen‘“ 
Recht dienende Ehegerichtsbarkeit (des Konsistoriums) zur Ausbildung ge- 
bracht worden, und in protestantischen Kreisen ist noch bis in unsere Tage die 
Forderung eines ‚„christlichen‘‘ Eherechts weit verbreitet. Die kirchliche Form 
der Eheschließung und die ‚‚schriftgemäßen Scheidungsgründe‘‘ gelten als die 
Grundpfeiler des durch das Christentum gegebenen Eherechts. 
Das „christliche‘‘ Eherecht fiel notwendig mit dem konfessionellen Ehe- 
recht zusammen: es war für Katholiken und Protestanten ein verschiedenes. 
Die politisch notwendige Forderung eines konfessionslosen ‚„bürgerlichen‘‘ Ehe- 
rechts war mit der Forderung der Aufhebung des „christlichen‘‘ Eherechts 
gleichbedeutend. War das, was praktisch unumgänglich war, zugleich ideal, ins- 
besondere vom Standpunkt des Christentums aus, gerechtfertigt? 
In Wirklichkeit war es das Christentum selber, das die Abschaffung des 
„christlichen‘‘ Eherechts forderte. Der Inhalt des Christentums läßt sich nicht 
in irgendwelches Gesetz, geschweige denn in die Form des Rechtsgesetzes fassen. 
Das Wesen des Christentums ist die Freiheit von jeglichem in Worte gebrachten 
Gesetz, um die Gesetzeserfüllung des Knechtes durch die freie Liebestat des 
aus göttlichem Geist wiedergeborenen Gotteskindes zu überbieten. Christen- 
tum entspringt dem Wehen des göttlichen Geistes, von dem man nicht weiß, 
von wannen er kommt und wohin er fährt. Das Christentum kann nicht in einem 
Zwangsgesetz ausgedrückt, noch durch ein Zwangsgesetz verwirklicht werden: 
das Christentum verabscheut die erzwungene Tat. Kein Rechtsgesetz ist darum 
aus dem Christentum ableitbar. Denn alles Recht ist auf zwangsweise Durch- 
führung angelegt. Die Anforderungen des nationalen Lebens sind der Ver- 
wirklichung durch den Zwang fähig und bedürftig, damit das Volk sich 
in seinem Dasein® gegenüber dem auswärtigen Feind und nach innen gegen- 
über dem Einzelnen behaupte. Alles Recht ist darum nationales Recht, 
d. h. weltliches Recht, aus Gründen des irdischen Lebens, des Volkslebens, 
geboren. Das Christentum aber ist keine Rechtsquelle. Seine Forde- 
rungen sind der zwangsweisen Durchführung unfähig. Christliches Recht ist 
ein Widerspruch in sich selbst. Das kanonische Recht der katholischen Kirche 
ist wider das Christentum. Es bringt die gesetzliche Art des katholischen 
Christentums, d.h. seinen Gegensatz gegen das Evangelium zum Ausdruck. 
Darum verbrannte Luther vor dem Elstertore zu Wittenberg mit der Bannbulle 
das ganze corpus juris canonici. Darum ist das kanonische Recht auch von dem 
Gericht der Weltgeschichte verworfen worden. Seit den Tagen der Reformation 
ist seine Weltherrschaft gebrochen. Seine Nachwirkungen zwar sind noch lange 
hinaus fühlbar gewesen. Aber die geschichtliche Entwickelung schreitet unauf- 
haltsam vorwärts, ein Stück des ‚‚christlichen‘‘ Rechtes nach dem anderen zu
	        
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