132 RUDOLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
der Kirche unabhängiges Eherecht geschaffen werden, so war die Einführung
einer besonderen staatlichen Eheschließungsform unumgänglich. Hier ist die
deutsche Reichsgesetzgebung dem französischen Vorbild gefolgt. Schon 1875,
als noch die Stürme des Kulturkampfes in Preußen brausten, führte das Reichs-
Obligatcrische personenstandsgesetz die obligatorische Zivilehe, d.h. die Eheschließung vor
Ainiiebe. Gem Standesbeamten als die allein gültige Form für das Zustandekommen der
Ehe in das Reichsrecht ein. Es konnte so scheinen, als ob auch die obligatori-
sche Zivilehe nur um des Kampfes gegen die katholische Kirche willen zur Gel-
tung gelangt wäre. Aber die übrigen Kulturkampfgesetze sind verweht. Die
obligatorische Zivilehe ist geblieben. Sie bedeutete keinen Angriff auf das
innerkirchliche Leben (das blieb vielmehr ‚‚unberührt‘‘), sondern die geschicht-
lich und grundsätzlich notwendige Befreiung zugleich der kirchlichen Hand-
lung vom staatlichen Eherecht und des staatlichen Eherechts von der Gesetz-
gebung der Kirche.
Es war selbstverständlich, daß das bürgerliche Gesetzbuch die obligatori-
sche Zivilehe übernahm. Die Ehe kann von Rechts wegen nur vor dem Standes-
beamten geschlossen werden. Die kirchliche Trauung hat keine rechtliche Gel-
tung mehr. Sie gehört rechtlich lediglich der über die Gewährung der religiösen
Handlung bestimmenden innerkirchlichen Ordnung an. Als die obligatorische
Zivilehe eingeführt werden sollte, ward auch von protestantischer Seite starker
Widerstand geleistet. Viele waren der Ansicht, daß durch das Verschwinden
der kirchlichen Trauung aus dem Eherecht das Dasein der christlichen Ehe ge-
fährdet sei: die kirchliche Trauung sei die Form für die Schließung der ‚„‚christ-
lichen Ehe‘. Es hat sich gezeigt, daß der Widerstand aus einem Irrtum hervor-
ging. Weder die Ehe, noch das Christentum ist durch die Zivilehe geschädigt
worden.
Das Wesen der christlichen Ehe beruht nicht in irgendwelcher Form der
Eheschließung, sondern ausschließlich in der Art der Eheführung. Die christ
liche Ehe kann überhaupt nicht ‚‚geschlossen‘‘ werden in dem Sinne, als ob
irgendwelche Form zu ihrem Dasein zu helfen imstande wäre. Ihr Wesen
wurzelt in dem Geist, der die Ehegatten erfüllt; ‚‚christliche‘‘ Formen sind ein
Widerspruch in sich selbst. Das Christentum aber fordert geradezu, daß nie-
mand zu der von der Kirche dargebotenen religiösen Handlung durch das Recht
gezwungen werde. Selbstverständlich ist es ein Bedürfnis des Christen, an dem
Tage, der zu den Höhepunkten seines irdischen Lebens zählt, vor Gottes An-
gesicht zu treten, den Bund der Liebe unter Gottes Wort zu stellen. Aber das
Wort Gottes fordert willige, gläubige Herzen. Es soll dem nicht aufgedrängt
werden, der es nicht begehrt. Die Eheschließung ist ein Rechtsgeschäft, eine
in ihrem Wesen rein weltliche Handlung. Es gehört sich, sie draußen vorzu-
nehmen, vor der Kirchentür, wie das noch im ganzen Mittelalter der Fall war.
Dann wird der Eheschließung der Kirchgang folgen, um den Eheschließungs-
willen noch einmal zu erklären und das Wort zu hören, das der Seele Nahrung
ist. Aber der Weg zur Ehe soll nicht von Rechts wegen durch die Kirche führen.
Die religiöse Handlung ist von dem Zwang des Rechts befreit.