148 RupoLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
gewalt führten sie die Hand des Juristen, den Stein des Rechtsstoffes in ein Bildwerk
der Kunst zu verwandeln.
Im Beginn des 2. Jahrhunderts waren JULIAN und AFRIKAN, im Beginn des 3. Jahr-
hunderts PAPINIAN, ULPIAN, PAULUS die Häupter der römischen Jurisprudenz. In
ihren Werken, von denen eines auf den Schultern des andern steht, durch den Anschluß
an die überlieferte Wissenschaft und Praxis einen einheitlich fortschreitenden mächtigen
Strom der Entwickelung herstellend, erschien die mächtige Schöpfung des klassischen
römischen Rechtes. Rechtsquellen gleich, wurden ihre Schriften von den Gerichten
angewandt. Erst seit dem Ende des 3. Jahrhunderts (seit Diokletian) setzte die monar-
chische Kaisergewalt ein, um nunmehr die endgültige Ausgestaltung des römischen
Rechtes in ihre Hand zu! nehmen. Juristenrecht (das in den Juristenschriften enthaltene
Recht) und Kaiserrecht (die neueren Kaisererlasse) waren die beiden Säulen, auf denen
das Recht des ausgehenden Reiches ruhte. Justinian hat dann im Anfang des 6. Jahr-
hunderts (in den Jahren 533 und 534) das Ganze zu einem großen Gesetzeswerk zusammen-
gefaßt, dem Corpus Juris, von dem der eine Hauptteil (die Digesta oder Pandectae)
das Juristenrecht (Auszüge aus den Juristenschriften), der andere Hauptteil (Codex)
das Kaiserrecht enthält. Eine kurz zusammenfassende lehrbuchartige Darstellung (In-
stitutiones) ward dem Ganzen als Einleitung vorangesetzt. Die Digesten (Pandekten)
waren die Kraft des Werkes, die ihm Unsterblichkeit verlieh. In dem römischen Juristen-
recht lebte der schöpferisch gestaltende Genius, an dessen vollendeter Kunst sich in den
kommenden Jahrhunderten immer wieder neuesLeben der Rechtswissenschaft entzündete.
Zunächst folgte auf die Abfassung des Corpus Juris eine Zeit des Verfalls. Im byzan-
tinischen Reich beschränkte man sich auf die Herstellung von Umschreibungen und Aus-
zügen des Gesetzbuches. In Italien hatte durch Justinians Eroberungen das Corpus Juris
gleichfalls Geltung gewonnen. Aber auch hier verharrte man bis in das ıı. Jahrhundert
bei der byzantinischen, durch Überlieferung gebundenen, unfreien Manier. Erst mit
dem Ende des ıı. Jahrhunderts setzt die Glossatorenschule von Bologna ein, die
unsere heutige Rechtswissenschaft vorbereitete. Der Geist der neuen Schule war von
Pavia ausgegangen, wo langobardische Richter (die Räte des königlichen Reichsgerichts
in Pavia) an der Hand einer Sammlung von altlangobardischen Königsedikten und karo-
lingischen Kapitularien eine Wissenschaft des deutschen (langobardischen) Rechts in
der Form exegetischer (glossierender) Behandlung der Rechtsquellen erzeugt hatten.
In Bologna ward die glossierende Art auf die Behandlung des Corpus Juris übertragen.
Ein Mann deutschen Namens, Irnerius (Werner), ward der Führer der neuen Bewegung
(um ı1ı00). Ihm folgten die berühmten ‚vier Lehrer‘“ (quattuor doctores) BULGARUS,
MARTINUS, JAKOBUS, HUGO, Zeitgenossen und Berater Barbarossas. In der ersten
Hälfte des ı3. Jahrhunderts erreichte die glossatorische Behandlung durch AZz0 ihre
Vollendung und durch Accursıus, der die gesamte Arbeit der Schule sammelnd zu-
sammenfa ßBte (seine Glosse ward die seitdem unverändert weiter überlieferte glossa
ordinaria), ihren Abschluß. |
Das Werk der Glossatorenschule von Bologna war die Wiedergewinnung des Ver-
ständnisses für das römische Juristenrecht. Den Byzantinern war es nur um die Heraus-
stellung des Stofflichen, des praktisch wichtig Erscheinenden am römischen Recht zu
tun gewesen: in ihren Auszügen, denen an erster Stelle das Kaiserrecht zugrunde lag,
erschien das römische Recht wie ein starres Mosaikbild, auf Goldgrund (Kaiserrecht),
aber ohne inneres Leben. Erst unter den Händen der bolognesischen Rechtslehrer er-
wachte der Geist aufs neue, der in dem Corpus Juris schlummerte. Die Pandekten
JUSTINIANS traten in den Mittelpunkt des Interesses. Den Glossatoren gelang es, durch
die Erläuterung der einzelnen Entscheidungen unter Heranziehung der sämtlichen über
das Werk zerstreuten „Parallelstellen‘‘ ein Verständnis des Ganzen zu gewinnen und so
durch kongeniale Neuschöpfung den Palastbau des römischen Rechtes in klassischem Stil
wieder aufzurichten.