150 RUDoLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
geführt. Der juristische Begriff trat seine Herrschaft an. Damit entstand die neue Rechts-
wissenschaft, deren Art noch in der heutigen, insbesondere gerade in unserer deutschen
Rechtswissenschaft fortlebt. War die Wissenschaft der römischen Juristen mehr künst-
lerisch schaffender Natur, jetzt ward eine Jurisprudenz verstandesmäßig begreifender
Art, eine rein wissenschaftliche Jurisprudenz geboren. Das Verständnis des
geltenden Rechtes sollte von nun an seine Fortentwickelung ermöglichen. Schöpferisch,
von weltbewegender Kraft war auch die neue Rechtswissenschaft. Das liegt im Wesen
jeder echten Wissenschaft begründet. Aber das Machtmittel, mit dem die Jurisprudenz
nunmehr arbeitete, war das dialektisch geschulte Denken. Äußerlich angesehen waren
die Leistungen der Kommentatoren, ebenso wie die der Scholastik überhaupt, schwer-
fällig genug, an ermüdende Schemata gebunden, breit, für unsern Geschmack nur mit
Mühe genießbar. Aber in all diesen Definitionen und Distinktionen lebte doch die geistige
Kraft, die einen mächtigen Stoff der Herrschaft des Gedankens dienstbar machte. An
der Hand des Kunstwerkes, das die römischen Juristen geschaffen hatten, ward ein
System rechtlicher Begriffe herausgearbeitet, als deren Folgerungen die einzelnen
Rechtssätze erschienen, an deren Hand die wissenschaftliche Beantwortung auch all der
Rechtsfragen möglich war, auf die der unmittelbare Inhalt der Rechtsquellen keine
Antwort gab. Die Idee eines natürlichen, in dem Wesen der Dinge schlummernden Rechts,
das durch den denkenden Verstand lediglich entdeckt wird, ist in der neuen Art. Das
römische Recht ward unter den Händen der Kommentatoren aus einem geschichtlichen,
vergänglichen zu einem verstandesmäßig notwendigen, ewigen, unvergänglichen Natur-
recht. Der naturrechtliche, die Rechtsüberzeugungen der Gegenwart als vernunftgemäß
notwendig widerspiegelnde Gedanke, der Glaube an das ‚‚mit uns geborene‘‘' Recht, ist
zu allen Zeiten die treibende Kraft der Rechtsentwicklung.
Das zum begrifflich entwickelten Naturrecht gewordene römische Recht der Kom-
mentatoren ward das neue italienische Recht, dessen die Zeit bedurfte. Es setzte sich
als das überall geltende gemeine italienische Recht in den Rechtsgebieten Italiens
durch, von den örtlichen Statutarrechten nur so viel übriglassend, als durch den Buch-
staben der Statuten unmittelbar gedeckt war. Ja, dies von den Kommentatoren hervor-
gebrachte gemeine italienische Recht trug die Kraft in sich, dem ‚Pandektenrecht‘
noch einmal die Weltherrschaft zu erobern. War doch das logische Denken überall das
gleiche. Bartolus (1314— 1357) und sein Schüler Baldus (1327— 1400) waren die beiden
größten Vertreter der kommentatorischen Jurisprudenz. Ihre Kommentare und Gut-
achten (consilia) zogen über die Alpen, die neue Wissenschaft und ihr Recht überallhin
zu verkündigen. Das unter ihren Händen in Rechtsbegriffen redende „römische‘‘ Recht,
mit der Rechtsvernunft der damaligen Gegenwart verbündet, wirkte mit der Gewalt
eines geschriebenen Naturrechts (ratio scripta) auf das Abendland. In Deutschland war
der Erfolg der vollkommenste. Das römische Recht des BARTOLUS und BALDUS ward in
Deutschland gemeines deutsches Recht.
Die im 16. Jahrhundert sich praktisch durchsetzende „Aufnahme des römischen
Rechtes‘' war mit der Aufnahme der kommentatorischen Rechtswissenschaft in Deutsch-
land gleichbedeutend. Man meinte nicht, ein fremdes Recht bei uns einzuführen. Was
an Örtlichen Gesetzen, Stadtrechten, Landrechten, auch was an festem deutschen Her-
kommen da war, blieb grundsätzlich unberührt. Aber die juristischen Begriffe, aus denen
die Wissenschaft das ergänzend in die weiten Lücken der positiven Gesetzesvorschriften
eintretende Recht ableitet, entnahm man der römischrechtlichen Lehre der Kommen-
tatoren. Eine deutsche Rechtswissenschaftentstand. Sie hätte aus den in Deutsch-
land geltenden Rechten die Grundbegriffe deutschen Rechtes zum Leben bringen müssen,
um unser einheimisches Recht auf vaterländischer Grundlage im Sinne einer neuen Zeit
umzugestalten. Aber die deutschen Juristen waren die Schüler des BARTOLUS und
BALDUS. Das aus dem römischen Recht entwickelte Begriffssystem der Italiener galt
auch den deutschen Reehtsgelehrten als das selbstverständliche, allein vernünftige. Im