156 KARL GAREIS: Handels- und Wechselrecht.
noch weniger ist sich der Einzelne bewußt, daß er in ein bürgerlich-rechtliches
Vertragsverhältnis eintritt, indem er in einen Straßenbahnwagen einsteigt oder
ein Zehnpfennigstück in eine Automatensäule einwirft, vielleicht auch, indem
er einen Brief in einen Briefkasten einlegt. Der Vertragsabschluß entschwindet
der Wahrnehmung in so vielen anderen Fällen, so der Abschluß eines Versiche-
rungsvertrags, wenn mit dem Abonnement einer Zeitung oder mit der Mitglied-
schaft eines Vereins eine Volksversicherung verknüpft ist. Man möchte fast
glauben, daß der Vertrag als bewußte Willenseinigung zur Erzeugung von privat-
rechtlichen Rechten und Pflichten seine Rolle ausgespielt hat, wenn man bedenkt,
wie die Verlobung im neuesten bürgerlichen Rechte behandelt ist, gar nicht zu
erwähnen, daß der Ehe längst der Vertragscharakter abgesprochen wird. Es
kann als eine Zersetzung des Privatrechts, wenigstens als ein Zurückdrängen
des bürgerlich-rechtlichen Vertrags durch das massenhafte Entstehen von
„gesetzlichen‘‘ Obligationen aufgefaßt werden, daß durch den Eintritt in einen
bestimmten Zustand, also durch eine Tat ohne weiteres Rechte und Ver-
bindlichkeiten entstehen, wie Faust meint: Im Anfang war die Tat. Soll nicht
der einzelne Arbeiter, der in einer beliebigen Fabrik arbeitet, durch eine Tarif-
vereinbarung verpflichtet sein, die von ihm weder persönlich noch durch einen
Vertreter geschlossen worden ist, wie jeder Arbeiter nach der Reichsversiche-
rungsordnung gegen Betriebsunfälle versichert ist (nicht: ‚wird‘, RVO.$ 544),
der in einem versicherungspflichtigen Betriebe beschäftigt ist! So wird der
Genuß von Vermögensrechten an die Zugehörigkeit zu einem Stande oder Be-
triebe geknüpft, nicht als das Resultat eines Vertragsabschlusses im Sinne des
bürgerlichen Rechts.
Aber nur scheinbar ist das Privatrecht verdrängt: wer genauer sieht, nimmt
auch überall den privatrechtlichen Vertrag als die Quelle jener Rechte und
Pflichten wahr, und mit dem Privatrecht ist auch das Handelsrecht als ein
Sonderrecht auch in heutiger Geltung gerettet. Wenn Wechselrecht, Ver-
sicherungsrecht und Aktienwesen heutzutage sozusagen Gemeingut sind, so
gehören sie doch geschichtlich — ihrer Entstehung nach, gewissermaßen nach
ihrem Ursprungsrechte (der lex originis) dem Handel an, und wenn die Schweiz
kein besonderes Handelsgesetzbuch anerkennen will, es ist doch Handelsrecht
— geschichtliches Handelsrecht — in Menge im Zivilgesetzbuch der Eidgenossen-
schaft enthalten, nicht die Form der Norm, sondern ihr Inhalt ist entscheidend.
Und es gibt noch heutzutage eigene Grundanschauungen und Grundprinzipien
des Handels, so die permanente Fruktifizierung des Betriebskapitals, daher
$ 353 des DHGB., daher auch die Kontokurrentzinsen und -buchung, dann die
Entgeltlichkeit (HGB. $ 354). Ja es treten manche Eigentümlichkeiten des
Handelsrechts in neuester Zeit noch schärfer als früher in ihrer kommerziellen
Eigenart hervor, und das neueste deutsche Handelsrecht hat mehr noch als
das ältere die Tendenz, ein Standesrecht des Kaufmannsstandes zu sein; kennt
ja doch das jetzt geltende Handelsgesetzbuch keine absoluten Handelsgeschäfte
mehr und verlangt es doch die Kenntnis der Handelsgebräuche nun von dem
Laien nicht mehr (HGB. von 1897 $ 346).