Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Frühere Rechtstheorien. I. Das Naturrecht. 3 
Verfolgung von dem Darlegen des begrenzten Inhaltes dieser oder jener 
Rechtsordnung unabhängig ist. Man wird der uns gestellten Aufgabe nur ge- 
nügen können, wenn man in kritischer Selbstbesinnung die empirischen Daten 
des sozialen Bewußtseins zergliedert und die logischen Bedingungen klar- 
legt, unter deren einheitlicher Verwertung allein eine Antwort auf die eben 
genannten drei Fragen möglich erscheint. Das System der also überall voraus- 
gesetzten Bedingungen gegenständlicher Rechtserkenntnis, seine theoretische 
Bedeutung und praktische Anwendung bilden nun des genaueren den Gegen- 
stand unserer Betrachtung. 
Die dadurch geforderte Besinnung ist in ihrem Grunde eine Aufgabe des 
wissenschaftlichen Denkens. Sie bedarf des bewußten Herausschälens der 
Grundfrage, des Handhabens einer kritisch gefesteten Methode, der Stütze 
einer allgemeingültigen Theorie. Ohne das mögliche Zurückgehen auf eine 
einheitliche Grundlehre muß jedes richtende Urteil, das irgendwie in 
rechtlichen Dingen ergeht, bloß von subjektivem Werte sein und der objek- 
tiven Begründung ermangeln. Dem gegenüber ist es ja weithin bekannt, wie 
unsere Probleme seit alten Zeiten das Nachdenken der Menschen in eindring- 
licher Weise beschäftigt haben. Von besonderem Interesse sind für die Kultur 
der Gegenwart drei Grundrichtungen, die eine Antwort auf die vorhin geschil- 
derten Aufgaben zu liefern unternommen: Das Naturrecht, die historische 
Rechtsschule und die materialistische Geschichtsauffassung. Wir wollen zuerst 
diese drei verschiedenen Theorien über das Wesen des Rechtes erörtern. 
A. Frühere Rechtstheorien. 
I. Das Naturrecht. Wenn in einer entwickelten Kultur Schäden sich 
zeigen, wenn die bestehenden Zustände in vielem unbegreiflich oder auch nur 
allzu verwickelt werden, so flüchtet gar mancher gern zur ‚Natur‘ zurück. Sie 
ist es, die alsdann einen festen Halt gegenüber willkürlichem und entartetem 
Treiben und Begehren liefern soll. So ist auch zu allen Zeiten versucht worden, 
dem positiv geordneten Rechte entgegen, das nur zu oft fehlerhaft und zu- 
fällig erschien, ein natürliches Recht zu entdecken, ein Recht, das „mit 
uns geboren ist‘. 
Dieser Gegensatz ist der am meisten besprochene in der ganzen theore- 
tischen Betrachtung des Rechtes. Er tritt in besonders scharfer und klarer 
Weise in der Rechtsphilosophie der Griechen hervor, ist dann im Mittelalter 
von der Kirche und der scholastischen Philosophie aufrechterhalten und ge- 
pflegt worden und hat sich in verschiedenen Ausführungen, Begründungen 
und Nutzanwendungen bis in unsere Tage erhalten. Es würde an dieser Stelle 
zu weit führen, den einzelnen Systemen naturrechtlicher Richtung in genauer 
Darlegung zu folgen; fragt man aber, welches der gemeinsam unterliegende 
Gedanke ist, der freilich weder von seinen Vertretern noch seinen Gegenern 
immer klar ausgesprochen worden ist, so entspricht ihm diese Begriffsbestim- 
mung: Naturrecht ist ein Recht, das in seinem Inhalte der Na- Naturrecht. 
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