A. Frühere Rechtstheorien. I. Das Naturrecht. 3
Verfolgung von dem Darlegen des begrenzten Inhaltes dieser oder jener
Rechtsordnung unabhängig ist. Man wird der uns gestellten Aufgabe nur ge-
nügen können, wenn man in kritischer Selbstbesinnung die empirischen Daten
des sozialen Bewußtseins zergliedert und die logischen Bedingungen klar-
legt, unter deren einheitlicher Verwertung allein eine Antwort auf die eben
genannten drei Fragen möglich erscheint. Das System der also überall voraus-
gesetzten Bedingungen gegenständlicher Rechtserkenntnis, seine theoretische
Bedeutung und praktische Anwendung bilden nun des genaueren den Gegen-
stand unserer Betrachtung.
Die dadurch geforderte Besinnung ist in ihrem Grunde eine Aufgabe des
wissenschaftlichen Denkens. Sie bedarf des bewußten Herausschälens der
Grundfrage, des Handhabens einer kritisch gefesteten Methode, der Stütze
einer allgemeingültigen Theorie. Ohne das mögliche Zurückgehen auf eine
einheitliche Grundlehre muß jedes richtende Urteil, das irgendwie in
rechtlichen Dingen ergeht, bloß von subjektivem Werte sein und der objek-
tiven Begründung ermangeln. Dem gegenüber ist es ja weithin bekannt, wie
unsere Probleme seit alten Zeiten das Nachdenken der Menschen in eindring-
licher Weise beschäftigt haben. Von besonderem Interesse sind für die Kultur
der Gegenwart drei Grundrichtungen, die eine Antwort auf die vorhin geschil-
derten Aufgaben zu liefern unternommen: Das Naturrecht, die historische
Rechtsschule und die materialistische Geschichtsauffassung. Wir wollen zuerst
diese drei verschiedenen Theorien über das Wesen des Rechtes erörtern.
A. Frühere Rechtstheorien.
I. Das Naturrecht. Wenn in einer entwickelten Kultur Schäden sich
zeigen, wenn die bestehenden Zustände in vielem unbegreiflich oder auch nur
allzu verwickelt werden, so flüchtet gar mancher gern zur ‚Natur‘ zurück. Sie
ist es, die alsdann einen festen Halt gegenüber willkürlichem und entartetem
Treiben und Begehren liefern soll. So ist auch zu allen Zeiten versucht worden,
dem positiv geordneten Rechte entgegen, das nur zu oft fehlerhaft und zu-
fällig erschien, ein natürliches Recht zu entdecken, ein Recht, das „mit
uns geboren ist‘.
Dieser Gegensatz ist der am meisten besprochene in der ganzen theore-
tischen Betrachtung des Rechtes. Er tritt in besonders scharfer und klarer
Weise in der Rechtsphilosophie der Griechen hervor, ist dann im Mittelalter
von der Kirche und der scholastischen Philosophie aufrechterhalten und ge-
pflegt worden und hat sich in verschiedenen Ausführungen, Begründungen
und Nutzanwendungen bis in unsere Tage erhalten. Es würde an dieser Stelle
zu weit führen, den einzelnen Systemen naturrechtlicher Richtung in genauer
Darlegung zu folgen; fragt man aber, welches der gemeinsam unterliegende
Gedanke ist, der freilich weder von seinen Vertretern noch seinen Gegenern
immer klar ausgesprochen worden ist, so entspricht ihm diese Begriffsbestim-
mung: Naturrecht ist ein Recht, das in seinem Inhalte der Na- Naturrecht.
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