System des Zivilprozeßrechts. VIII. Rechtsmittel. 221
erkenntnisurteile können seit der Novelle von I909 ohne Tatbestand und ohne
Entscheidungsgründe erlassen werden.
Wenn das Urteil nicht mehr durch Einspruch oder ein ordentliches Rechts-
mittel angefochten werden kann, ist es formell rechtskräftig. Aus der formellen
Rechtskraft folgt die materielle Rechtskraft. Das ist die Wirkung des Urteils,
welche verhindert, daß über dieselbe Sache in einem anderen Prozesse nochmals
entschieden werde. Kein Gericht kann nachprüfen, ob das rechtskräftige Urteil
richtig ist. Daraus ergibt sich eine Reflexwirkung auf die materiellen Verhält-
nisse der Beteiligten: sind die Gerichte an die Entscheidung gebunden, so ist
die Entscheidung auch für die Beteiligten maßgebend. Daß die Rechtsordnung
dem Urteile materielle Rechtskraft beilegt, hat seinen letzten Grund darin, daß
die endlose Unsicherheit, welche sich ohne die materielle Rechtskraft ergäbe,
unerträglich wäre und die Autorität der Gerichte untergrübe. Der Vorteil end-
gültiger Normierung ist so groß, daß der Nachteil einer möglicherweise unrich-
tigen Normierung des einzelnen Falles zurücktreten muß. Deshalb gebietet der
Staat, der in dem Urteile das Recht gewiesen hat, seinen Gerichten und den
Beteiligten, das Urteil zu respektieren. In objektiver Beziehung beschränkt
sich die Rechtskraft des Urteils auf die Rechte und Rechtsverhältnisse, welche
in dem Prozesse geltend gemacht worden sind. Die Entscheidung über einen
Präjudizialpunkt nimmt nur dann an der Rechtskraft teil, wenn eine Partei
durch Inzidentantrag eine rechtskräftige Entscheidung darüber verlangt hat.
In subjektiver Beziehung beschränkt sich die Rechtskraft regelmäßig auf die
Parteien und diejenigen Personen, welche nach dem Eintritte der Rechts-
abhängigkeit Rechtsnachfolger der Parteien geworden sind. Urteile, durch die
eine Änderung des bestehenden Rechtszustandes herbeigeführt wird (Bewirkungs-
urteile), sowie Urteile in Eheprozessen, Kindschaftsprozessen und Entmündigungs-
prozessen haben Rechtskraft für und gegen jedermann. Urteile ausländischer
Gerichte werden in Deutschland als wirksam anerkannt, wenn die Gegenseitig-
keit verbürgt ist; doch gelten gewisse Ausnahmen, die teils zum Schutze der
Interessen inländischer Staatsangehöriger, teils zur Durchführung deutscher
Gesetze als notwendig erachtet wurden.
VIII Rechtsmittel. Rechtsmittel sind Prozeßhandlungen, durch die
gerichtliche Entscheidungen als unrichtig angefochten werden.
Die Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens bringt es
mit sich, daß eine gerichtliche Entscheidung zufolge eines Irrtums über die der
Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen oder zufolge eines Irrtums über die
anzuwendenden Rechtssätze unrichtig sein kann; auch das ist nicht ausge-
schlossen, daß ein Gericht vorsätzlich das Recht beugt, indem es wider besseres
Wissen eine unrichtige Entscheidung fällt. Die Unrichtigkeit einer Entscheidung
kann auch darauf beruhen, daß eine Partei bei der Verhandlung dem Gerichte
nicht dasjenige Material unterbreitet hat, welches ihr zum Zwecke der Rechts-
verfolgung oder der Verteidigung zur Verfügung steht; die Unvollständigkeit
der Parteitätigkeit kann zu einer unrichtigen Entscheidung führen, auch wenn
Rechtskraft
des Urteils.
Bedürfnis
nach
Rechtsmitteln.