222 LOTHAR VON SEUFFERT: Zivilprozeßrecht.
das Gericht das ihm vorgelegte Material in tatsächlicher und rechtlicher Be-
ziehung richtig beurteilt hat. Durch die Zulassung der Anfechtung wird die
Gefahr unrichtiger Entscheidungen zwar nicht ganz beseitigt, denn auch bei
der Entscheidung über dieAnfechtung können die Fehlerquellen nicht ganz aus-
geschaltet werden; aber die Gefahr der unrichtigen Entscheidung wird gemindert.
Die Geschichte des Prozeßrechts zeigt, daß die älteste Zeit keine Anfechtung
kennt. Mit Ausbildung der prozessualischen Einrichtungen wird aber die Anfech-
tung zugelassen, zuerst nur wegen schuldhafter Rechtsbeugung, dann in immer
weiterem Umfange. In der neuesten Zeit zeigt sich die nicht unbedenkliche
Neigung, die Anfechtung der gerichtlichen Entscheidungen zu beschränken.
Ordentliche Man unterscheidet ordentliche und außerordentliche Rechtsmittel. Ordent-
andere niche liche Rechtsmittel sind diejenigen, welche innerhalb einer mit der Zustellung
Rechtsmittel. oder Verkündung der Entscheidung beginnenden Frist eingelegt werden müssen.
Außerordentliche Rechtsmittel sind solche, deren Einlegungsfrist erst mit der
Kenntnis des Anfechtungsgrundes beginnt. Ein Rechtsmittel heißt devolutiv,
wenn die Einlegung des Rechtsmittels bewirkt, daß die Entscheidung des
Prozesses einem Gerichte höherer Ordnung zufällt. Wird durch die Einlegung
des Rechtsmittels die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung gehemmt,
so heißt das Rechtsmittel ein suspensives. Als Rechtsmittel bezeichnet das
deutsche Prozeßgesetz die Berufung, die Revision und die Beschwerde. Diese
Rechtsmittel sind ordentliche Rechtsmittel im angegebenen Sinne. Den gegen
das Versäumnisurteil zulässigen Einspruch (s. o. S. 220) bezeichnet das Gesetz
nicht als Rechtsmittel, obwohl er seinem Wesen nach zu den Prozeßhandlungen
gehört, durch die eine Entscheidung angefochten wird. Die außerordentlichen
Rechtsmittel des deutschen Prozeßgesetzes sind die Nichtigkeitsklage und die
Restitutionsklage. Das Gesetz bezeichnet sie nicht als Rechtsmittel, sondern
als Wiederaufnahmeklagen, weil sie zur Wiederaufnahme des durch ein formell
rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens führen.
Berufung. Die Berufung ist der römischen appellatio nachgebildet. Diese ent-
wickelte sich in der römischen Kaiserzeit. Sie steht in geschichtlichem Zu-
sammenhang mit dem staatsrechtlichen Grundsatze, daß jeder Beamte gleichen
oder höheren Ranges die Amtshandlung eines anderen Beamten aufheben kann.
Dem Princeps als dem obersten Beamten stand diese Befugnis gegenüber allen
Beamten und auch gegenüber den Entscheidungen der Geschworenengerichte
zu. Aus der Fülle der kaiserlichen Gewalt ergab sich aber die Befugnis, gericht-
liche Entscheidungen nicht bloß aufzuheben, sondern auch an Stelle der auf-
gehobenen Entscheidung eine andere Entscheidung zu setzen. Die Parteien
konnten den Kaiser angehen, die Entscheidungen der Gerichte nachzuprüfen
und eventuell zu korrigieren. Indem kaiserliche Verordnungen bestimmten,
daß man sich mit der Appellation zunächst an gewisse Beamte zu wenden habe,
gegen deren Entscheidung dann wieder der Kaiser als höchster Richter angerufen
werden konnte, entstanden mehrere einander übergeordnete Appellations-
instanzen. Die römische Appellation ging in den kanonischen Prozeß über und
wurde mit dem römisch-kanonischen Prozeßrecht in Deutschland eingeführt.