Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Die Strafgesetz- 
gebung des 
19. Jahrhunderts. 
234 FRANZ voN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht. 
und Maß der Leistung wird abgestuft nach der Art und Schwere des begangenen 
Verbrechens und damit die Differenzierung der Tatbestände angebahnt. 
Sobald die erstarkende Staatsgewalt die Friedensbewahrung als ihre 
wichtigste Aufgabe den Händen der Blutsverbände entrungen hat, verändern 
Verbrechen und Strafe ein drittes und einstweilen letztes Mal ihren Charakter. 
Das Verbrechen erscheint als die Übertretung der von der Staatsgewalt ge- 
setzten Rechtsordnung, durch die den einzelnen der Spielraum untereinander 
und im Verhältnis zur staatlichen Gemeinschaft umgrenzt wird; und die Strafe 
ist die Reaktion des Staates, der seinen Willen dem widerstrebenden Einzel- 
willen gegenübes durchsetzt. Hand in Hand mit dieser Auffassung geht die 
Verstaatlichung der Strafverfolgung, die nicht mehr, wie bisher, dem verletzten 
Einzelnen und seiner Sippe anheimgegeben werden kann, sondern von Amts 
wegen betrieben werden muß. 
Auf deutschem Boden ist diese Entwicklungsstufe mit dem Ausgang des 
15. Jahrhunderts etwa erreicht. Sie erhält ihren vollendeten Ausdruck in der 
Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532; und sie findet ihren Höhepunkt 
in dem auf dieser sich aufbauenden Gemeinen Recht mit seinem durch die 
Folterung des Verdächtigen gekennzeichneten Strafverfahren und mit seinen 
vielgestaltigen blutigen Leibes- und Lebensstrafen. 
Das Zeitalter der Aufklärung bedeutet auf strafrechtlichem Gebiet 
keinen grundsätzlichen Bruch mit den Grundgedanken des Gemeinen Rechtes, 
sondern deren reformierende Weiterbildung. Die Schriftsteller dieser Periode 
von Montesquieu (1721) bis auf Beccaria und Hommel (1764), predigen Spar- 
samkeit in der Anwendung der Strafmittel und Rationalisierung des Straf- 
prozesses. Zweckmäßigkeitserwägungen sind es, die sie gegen die Todesstrafe 
oder gegen die Folter ins Feld führen. An der Auffassung des Verbrechens als 
einer gegen die staatliche Rechtsordnung gerichteten Handlung, an der Auf- 
fassung der Strafe als nach dem Prinzip der ‚‚Proportionalität‘‘ zu bemessenden 
staatlichen Reaktion gegen das Verbrechen halten sie fest. 
Die Gesetzgebungen von Toskana 1786, Österreich 1787 (das Josephinische 
Strafgesetzbuch), Preußen 1794 (Allgemeines Landrecht) bilden den voll- 
ständigsten Niederschlag der Ideen dieser Periode und zugleich den Übergang 
zum 19. Jahrhundert. 
A. Das Strafrecht. 
I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. Von den großen 
Fortschritten, die das 19. Jahrhundert den Naturwissenschaften auf allen ihren 
Gebieten, die es der Technik in Gütererzeugung und im Verkehr, die es auch, 
im ganzen genommen, den Geisteswissenschaften gebracht hat, ist das Straf- 
recht, bis in das letzte Viertel des Jahrhunderts hinein, so gut wie völlig un- 
berührt geblieben. Es hat sich damit begnügt, das reiche Erbe anzutreten und 
zu verwalten, das ihm das 18. Jahrhundert hinterlassen hatte, die Bahnen zu 
verfolgen, die ihm durch die Literatur wie durch die Gesetzgebung der Auf- 
klärungszeit gewiesen waren.
	        
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