Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Das Strafrecht. I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. 235 
I. Die Gesetzgebung. Zwei legislative Werke sind es, denen fast die 
gesamte Strafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts die Richtungsbestimmung 
verdankt: der Napoleonische Code penal von 1810 und das bayrische Straf- 
gesetzbuch von 1813. 
Das französische Gesetzbuch weist noch unmittelbar in das 18. Jahrhundert Der Code pena 
zurück. Seine Grundlage hatte bereits das erste Strafgesetzbuch der Revolution 
(1791) geschaffen, und dieses wieder war, zum Teil wenigstens, durch die Jo- 
sephinische Gesetzgebung in Österreich und den Niederlanden beeinflußt 
worden. Dennoch springt der wesentliche Fortschritt, den der Code von 1810 
über die Gesetzgebungskunst seiner Vorgänger gemacht hat, bei jedem, auch 
nur oberflächlichen, Vergleich deutlich in die Augen. Seine Vorzüge liegen 
weniger in dem Inhalt seiner Anordnungen, als vielmehr auf dem Gebiet der 
legislativen Technik. Wie unbegreiflich schwerfällig erscheinen nicht die straf- 
rechtlichen Vorschriften des preußischen Allgemeinen Landrechts neben den 
klaren und knappen Begrifisbestimmungen des französischen Gesetzbuches! 
Obwohl die Härte seiner auf dem starrsten Abschreckungsprinzip beruhenden 
Strafdrohungen, denen die Schwurgerichte die Gefolgschaft versagten, seit dem 
Jahr 1832 wiederholte und wesentliche Milderungen (Einführung der circon- 
stances att@nuantes) notwendig gemacht hatte, konnte doch die Grundlage wie 
das System des Gesetzbuches während des ganzen 19. Jahrhunderts hindurch 
unberührt erhalten bleiben. Bis zum heutigen Tag ist in Frankreich das Be- 
dürfnis nach einem neuen Aufbau der Strafgesetzgebung nur in den engsten 
Kreisen vorhanden; in voller Lebenskraft hat der Code von 1810 die Hundert- 
jahrfeier seines Bestehens überlebt. 
Das andere dieser beiden Werke ist das Bayrische Strafgesetzbuch von 1813. Das Bayrische 
Seine Entstehung ist untrennbar verknüpft mit dem Namen des bedeutendsten nn. 
Kriminalisten, den das beginnende 19. Jahrhundert aufzuweisen hatte, mit 
dem Namen Anselms v. Feuerbach (1775—1833). Mit ihm beginnt das klas- 
sische Zeitalter der deutschen Strafrechtswissenschaft. Feuerbach steht durch- 
aus auf den Schultern der für die Aufklärungszeit tonangebenden Männer; er 
ist die reifste Synthese der jene Epoche beherrschenden Ideen. Aber die strenge 
Schulung, die sein frühreifer, beweglicher Geist dem’ Kantschen Kritizismus 
verdankte, befähigte ihn, den kaum 25jährigen, die Führung in allen Zweigen 
der Strafrechtswissenschaft zu übernehmen. Sein Lehrbuch des peinlichen 
Rechtes (1801 zuerst erschienen) hat bis in die 50er Jahre hinein den straf- 
rechtlichen Unterricht an den deutschen Universitäten beherrscht; sein Ein- 
treten für die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens (1825) entschied 
in der politischen Meinung Deutschlands den Sieg zugunsten dieser viel- 
umstrittenen Grundsätze; und noch heute kann seine aktenmäßige Darstellung 
merkwürdiger Verbrechen (1828/29) als mustergültig für die kriminalpsycho- 
logische Betrachtung bezeichnet werden. Dauernden Ruhm aber hat Feuerbach 
sich und seinem Vaterland in erster Linie durch seine gesetzgeberische Tätigkeit 
gesichert. Als er auf Grund der vernichtenden Kritik, die er über einen früheren 
Versuch veröffentlicht hatte, von der bayrischen Regierung mit der Ausarbeitung
	        
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