Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Die deutsche 
Partikulargesetz- 
gebung. 
236 FRANZ voN LisZT: Strafrecht und Strafprozeßrecht. 
des Entwurfs eines Strafgesetzbuches beauftragt wurde, hat er, allen Schwierig- 
keiten und Hindernissen zum Trotz, den Stempel seiner Individualität dem 
bayrischen Strafgesetzbuch von 1813 aufzuprägen verstanden. Die streng 
systematische Ordnung des Stoffes, die Schärfe der begrifflichen Abgrenzungen, 
der Schutz gegen richterliche Willkür und andere allgemein anerkannte Vor- 
züge sicherten dem Werke Feuerbachs auf Jahrzehnte hinaus den Einfluß auf 
die Strafgesetzgebung anderer Länder. Erfolgreich konnte es den Wettbewerb 
mit dem französischen Code aufnehmen, bis dieser erst in Preußen (1851), dann 
im neuen Deutschen Reich (1870) die gemein-deutschen Überlieferungen ver- 
drängte. Und auch heute noch strahlt der Ruhm des bayrischen Strafgesetz- 
buches nicht nur in Griechenland, sondern auch bei den derselben Epoche 
entstammenden Staatswesen Mittel- und Südamerikas in ungetrübtem Glanz. 
Über diese beiden Grundlagen ist das ganze 19. Jahrhundert nicht hinaus- 
gekommen. 
Zwar war die Strafgesetzgebung fast in allen Ländern unermüdlich tätig. 
Entwurf folgte auf Entwurf; und gar manchem von ihnen glückte es, Gesetzes- 
kraft zu erlangen. Aber von neuem Inhalt war in diesen ‚neuen‘ Strafgesetz- 
büchern wenig zu finden. Man feilte an der Bestimmung der Tatbestände und 
wetteiferte in den Abstufungen der Strafdrohung. Im großen und ganzen drehte 
man sich im Kreise. 
Da und dort finden wir freilich neue Deliktsbegriffe, die durch die geänderten 
Lebensverhältnisse nahegelegt worden waren. Mit den Dampfschiffen, Eisen- 
bahnen und Telegraphen, mit der Verwendung der Sprengstoffe oder der elek- 
trischen Kraft zu gewerblichen und anderen Zwecken bildeten sich neue Gruppen 
von strafbaren Handlungen; die raschen Fortschritte und die damit gegebenen 
Entartungen des wirtschaftlichen Verkehrs, die Entwickelung der handels- 
rechtlichen Gesellschaften, der auf das äußerste gesteigerte Wettbewerb in 
Handel und Gewerbe mit seinen Warenfälschungen und seinem unlauteren 
Geschäftsgebaren, das immer mächtiger sich entfaltende Banken- und Börsen- 
wesen machten neue Strafdrohungen notwendig; der privatrechtlichen An- 
erkennung der Urheber- und Erfinderrechte auf dem Gebiet der Kunst und 
Literatur wie des Gewerbes folgte die Gewährung des strafrechtlichen Schutzes; 
und je weiter die Kreise der Lebensbetätigung gezogen wurden, die der moderne 
Wohlfahrtsstaat zum Gegenstand seiner Sorgfalt erklärte, wie etwa die ausge- 
dehnten Gebiete des Arbeiterschutzes oder der Arbeiterversicherung, desto größer 
wurde die Zahl der mit Strafen belegten Äußerungen rücksichtslosen Eigennutzes. 
So hat das System der Verbrecherbegriffe gar manchen neuen Zweig an- 
gesetzt. Aber der alte Stamm ist unverändert geblieben. Gerade bei jenen 
Verbrechen, die am tiefsten die Sicherheit des gesellschaftlichen Lebens ge- 
fährden und unsere Strafgerichte am häufigsten beschäftigen, kann die Dogmen- 
geschichte auf eine viele Jahrhunderte umfassende Entwicklung zurückblicken, 
vermag die richterliche Handhabung des Gesetzes auch heute noch den prak- 
tischen Sinn der römischen Juristen oder die Gelehrsamkeit der gemeinrechtlichen 
Schriftsteller mit Erfolg zu Rate zu ziehen.
	        
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