A. Das Strafrecht. I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. 239
Das Schwergewicht ihrer Tätigkeit, der über das Jahrhundert hinaus-
reichende Teil ihrer Arbeitsleistung, aber liegt in der Durchdringung und Weiter-
bildung der allgemeinen Lehren des Strafrechts. Hier ist sie zu einer Schärfe
der Begriffsbildung gelangt, durch die selbst die stolze römische Jurisprudenz
in den Schatten gestellt wird. In der Durchbildung der beiden Schuldformen
Vorsatz und Fahrlässigkeit, in der Behandlung des Verbrechensversuches und
der Teilnahme am Verbrechen, in’ der Lehre von den Unterlassungsdelikten
oder von den Gründen, durch welche die Rechtswidrigkeit des Handelns aus-
geschlossen wird, und in zahlreichen anderen Fragen des ‚allgemeinen Teiles‘*,
hat die strafrechtliche Wissenschaft ihre Zwillingsschwester, die privatrecht-
liche Deliktslehre, weit hinter sich gelassen. Trotz vielfacher Hinneigung zu
weltfremdem Formalismus, trotz der Überschätzung des reinlogischen Elements
hat die strafrechtliche Dogmatik hier dauernde Ergebnisse geschaffen.
Und wie an alle großen Kodifikationen, so knüpft auch an das Insleben-
treten des Reichsstrafgesetzbuches eine neue Blütezeit der dogmatischen Straf-
rechtswissenschaft. Befreit von den Fesseln des Partikularismus, belebt von
der Freude an dem einheitlichen Gesetzbuch, dessen schwere Fehler in der
ersten Begeisterung übersehen wurden, bauten die juristischen Dogmatiker
ihre Begriffsgebäude auf. Unter den Verfassern von Lehr- und Handbüchern
des deutschen Reichsstrafrechts sind Berner, Haelschner, Merkel, Binding,
Hugo Meyer, später v. Liszt, Finger und Allfeld zu nennen; die besten Kommen-
tare haben Olshausen und Frank geliefert. Durch die Rechtsprechung des
Reichsgerichts wurde die Erörterung der Streitfragen in lebhaftem Fluß ge-
halten. Zu den beiden älteren strafrechtlichen Zeitschriften, Goltdammers
bereits erwähntem Archiv und dem Gerichtssaal, tritt 1880 die von Dochow
(F 1881) und v. Liszt gegründete Zeitschrift für die gesamte Strafrechts-
wissenschaft.
Bei allen diesen Untersuchungen hat die strafrechtliche Wissenschaft mit Die Philosophie
den philosophischen Systemen des 19. Jahrhunderts ungleich engere 2 Tree
behalten als irgendeiner von den übrigen Rechtszweigen. Dieser Zusammen-
hang zwischen strafrechtlicher Dogmatik und Philosophie äußert sich besonders
deutlich in den Lehrmeinungen über das Wesen und den Zweck der Strafe.
Die „Strafrechtstheorien‘‘, die in reichster Fülle die erste Hälfte des Jahr-
hunderts hervorgebracht hat, stützen sich unmittelbar oder mittelbar auf die
jeweils herrschenden philosophischen Systeme. Unter diesen hat das Hegelsche
Lehrgebäude jahrzehntelang der deutschen Strafrechtswissenschaft seinen
Stempel aufgedrückt. Daß die Antithese zwischen dem Recht und dem be-
wußten Unrecht oder dem Verbrechen ihre Lösung in der Strafe finde, daß das
Wesen der Strafe in der Negation des Unrechts und damit in der Wieder-
herstellung des Rechtes bestehe: das ist der Grundgedanke fast sämtlicher
Kriminalisten aus der Mitte des Jahrhunderts. Koestlin, Berner, Haelschner
stehen auf dem Boden der Hegelschen Philosophie. Und es wäre eine ver-
lockende Aufgabe, bei einem der führenden Kriminalisten aus der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts, bei einem, der wie kein anderer auch heute noch die