Das Strafen-
system.
240 FRANZ voN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
Gedankenkreise der Jüngeren beherrscht, bei A. Merkel, den Einfluß nach-
zuweisen, den die Hegelsche Philosophie auf seine gesamte wissenschaftliche
Auffassung ausgeübt hat.
Freilich gerade auf die für den Gesetzgeber wie für den Richter wichtigste
Frage blieb jede, auch die Hegelsche Philosophie die Antwort schuldig: über
Art und Maß der Strafe vermögen sie nichts zu sagen. Daß dem Unrecht seine
Negation entgegengesetzt werden müsse, hatten sie behauptet, vielleicht auch
nachgewiesen; wie diese Negation beschaffen sein solle, darum kümmerten sie
sich nicht weiter. Hier war die Strafrechtswissenschaft führerlos. Und darum
begnügte sie sich damit, im Verein mit dem Gesetzgeber das alte Programm
der Aufklärungsliteratur zur weiteren Ausführung zu bringen. Sparsamkeit
in der Verwendung der Strafmittel: das wurde die allgemeine Losung.
Der Kampf für und gegen die Todesstrafe, den das 18. Jahrhundert be-
gonnen hatte, wurde wieder aufgenommen und mit den alten Gründen weiter-
geführt. Einzelne Staaten haben sie abgeschafft; so Italien, Rumänien, Portugal,
die Niederlande, Norwegen. In allen anderen wurde sie auf ein wesentlich
kleineres Anwendungsgebiet beschränkt, freilich, ohne daß es dabei gelungen
wäre, die schreiendsten Mißverhältnisse und Widersprüche zu beseitigen. Daß
die verstümmelnden Leibesstrafen abgeschafft wurden, versteht sich von selbst.
Ebenso, daß die Prügelstrafe, die stets als Standesstrafe für die unteren Volks-
schichten angesehen worden war, mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem
Gesetz nicht in Einklang gebracht werden konnte und darum fallen mußte.
Auch die eigentlichen Ehrenstrafen, wie die Ausstellung am Pranger und der
bürgerliche Tod, wurden aus dem System der Strafmittel ausgeschieden. So_
blieben, neben der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, nur die Geld-
strafe und die Freiheitsstrafe. Ausgedehnte Verwendung der Freiheitsstrafe,
unter fortschreitender Abkürzung ihrer Dauer und immer größerer Gleich-
förmigkeit in ihrem Vollzug: in dieser Tatsache tritt die Eigenart des Strafen-
systems im 19. Jahrhundert vielleicht am deutlichsten hervor.
Zugleich aber hat gerade auf dem Gebiete der Strafvollstreckung sich eine
völlige Verwirrung herausgebildet. Der Gedanke, durch Freiheitsentziehung
in Verbindung mit zwangsweiser Gewöhnung an regelmäßige Arbeit den Ver-
brecher zu einem brauchbaren Glied der Gesellschaft zu machen, stammt
schon aus dem Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Er erwacht
zu neuem Leben im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Aber da die damals
vorhandenen Strafanstalten mit ihren unglaublich erbärmlichen Einrichtungen
für die Durchführung des Besserungsgedankens völlig ungeeignet waren, ver-
langte die an John Howard (f 1790) anknüpfende Bewegung vor allem die
bauliche Umgestaltung der Gefängnisse. Jahrzehntelang schien es, als sollte
die Strafrechtswissenschaft aufgehen in der Gefängnisbaukunst. Das Zellen-
gefängnis zu Philadelphia (1829) wurde als der Weisheit letzter Schluß in allen
Kultursprachen gepriesen; und von den Vereinigten Staaten drang das System
der Einzelhaft etwa seit dem Jahre 1840 nicht nur nach England, sondern auch
nach dem europäischen Kontinent (Bruchsal 1848, Moabit 1849). Die all-