252 FRANZ VoN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
Zwei einander entgegengesetzte Antworten sind auf diese Frage an sich
möglich. Die erste geht aus von dem sog. Territorialprinzip, d. h. von dem an
sich unbestreitbaren Satze, daß die Staatsgewalt eines jeden Staates umgrenzt
und beschränkt wird durch das Staatsgebiet. Sie leitet daraus die Regel ab,
daß das Strafrecht eines jeden Staates nur Anwendung finden kann auf die
innerhalb seines Staatsgebietes begangenen Straftaten. Das bedeutet für unser
Beispiel: nur das französische Recht hat Gewalt über den Mörder; die deutschen
Behörden mögen ihn ausweisen oder ausliefern — richten, nach deutschem
Recht ihn richten, dürfen sie nicht.
Die zweite der Antworten geht aus von der Interessengemeinschaft der
Kulturstaaten. Aus ihr folgert sie den Satz: einer für alle, alle für einen. Der
Staat, der einen Verbrecher dingfest macht, der kann ihn nach seinem Recht
aburteilen und das Urteil vollstrecken; er handelt im Namen der Gesamtheit,
wie jeder andere Staat unter denselben Voraussetzungen im Namen aller anderen
handeln würde. Die Durchführung dieses zunächst bestechenden Gedankens
(man spricht hier wohl von dem ‚‚Prinzip der Weltrechtspflege‘‘) scheitert an
einer Reihe von nüchternen Erwägungen. Vor allem an der inhaltlichen Ver-
schiedenheit der nationalen Strafgesetzgebungen. Selbst die benachbarten
Kulturstaaten weichen nicht nur in der Fassung der strafbaren Tatbestände,
sondern ganz besonders in der Festsetzung der Strafen so weit voneinander ab,
daß die stellvertretende Handhabung der Strafgerichtsbarkeit ausgeschlossen
ist. Die Kindesmörderin kann nach englischem Recht nur die Gnade des Königs
von der Todesstrafe befreien; nach deutschem Recht darf der Richter bis auf
zwei Jahre Gefängnis herabgehen. Wie soll ferner der Sachverhalt festgestellt
werden, wenn die Tat auf fremdem, weit entferntem Gebiet begangen ist?
Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wäre so gut wie ausgeschlossen, das
Strafverfahren nur möglich unter Durchbrechung eines seiner wichtigsten
Grundsätze. °
Aber auch das Territorialprinzip vermag uns nicht zu befriedigen. Das
Mißtrauen der Staaten untereinander lehnt sich dagegen auf, daß ein Staats-
angehöriger, der die Tat im Ausland verübt und sich ins Inland geflüchtet hat,
an den Staat des Begehungsortes ausgeliefert werde. Und ist die Tat im Ausland
gegen einen unserer Staatsangehörigen begangen, so fürchten wir vielleicht,
daß die Rechtspflege des Tatortes es an der nötigen Entschiedenheit in der
Strafverfolgung und an der gerechten Strenge bei der Aburteilung fehlen lassen
könne.
So hat die Strafgesetzgebung der Gegenwart sich veranlaßt gesehen, ein
etwas kompliziertes System aufzustellen. Nur Italien und Österreich (von
kleineren Staaten abgesehen) huldigen dem Prinzip der Weltrechtspflege; die
anderen, unter ihnen das Deutsche Reich, gehen vom Territorialprinzip aus,
erweitern dieses aber nach drei Richtungen hin. Nach deutschem Recht finden
die deutschen Gesetze Anwendung auf alle im Inland begangenen Handlungen,
auch wenn der Täter ein Ausländer ist; dieim Ausland begangenen werden grund-
sätzlich von der deutschen Gesetzgebung nicht ergriffen. Für Übertretungen