Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Untersuchungen 
über die 
Ursachen des 
Verbrechens. 
Die Kriminal- 
anthropologie. 
254 FRANZ VON LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht. 
Reich hat sich in einzelnen, nicht in allen, seiner Verträge auf diesen Standpunkt 
gestellt. Von der Asylfreiheit wird vielfach der Königsmord ausdrücklich an- 
genommen. 
Die Zerfahrenheit, die auf dem ganzen Gebiete des Auslieferungswesens 
heute noch herrscht, wird über kurz oder lang die Kulturstaaten dazu zwingen, 
durch einen allgemeinen Staatenverband die Grundsätze festzustellen, nach 
welchen die Auslieferung begehrt und gewährt wird. Je mehr das internationale 
Gauner- und Verbrechertum die Ausgestaltung der modernen Verkehrsmittel 
sich zunutze zu machen versteht, desto notwendiger ist ein planmäßiges Zu- 
sammenwirken der sämtlichen beteiligten Rechtsordnungen. 
Ill. Neue Ideen. Bis in die Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts 
bieten Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft das Bild ruhigen Fort- 
schreitens auf der, wie es scheinen möchte, unverrückbar gegebenen Grundlage. 
Aber mit dem letzten Viertel dieses Jahrhunderts dringen neue Gedankenreihen 
in das festgefügte System der überlieferten Anschauungen; Gedankenreihen, 
durch welche die beiden Grundbegriffe allen Strafrechts, die Begriffe des Ver- 
brechens und der Strafe, in ihrem innersten Kern und in ihrem Verhältnis zuein- 
ander ergriffen und ins Wanken gebracht werden. Von zwei Seiten zugleich 
erfolgt der Angriff auf die juristische Dogmatik. 
ı. Die Ätiologie der Kriminalität. Die Frage nach den Ursachen 
des Verbrechens enthält der herrschenden klassischen Strafrechtsschule gegen- 
über die Stellung eines ganz neuen Problems. Man hatte sich daran gewöhnt, 
das Verbrechen als eine Tatsache hinzunehmen, die nun einmal gegeben sei 
und an der sich nicht sehr viel ändern lasse. Wurde die Frage ‚woher stammt 
das Verbrechen?‘ wirklich einmal aufgerollt, so begnügte man sich damit, auf 
die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur hinzuweisen. Und in der Tat — wenn 
der menschliche Wille wirklich frei ist, jeder Kausalität entrückt, so daß der 
Mensch in jedem Augenblick nach freiem, ursachlosem Entschluß so oder 
anders wollen kann, so hat die Frage nach den Ursachen seines Handelns 
wissenschaftlich überhaupt keinen Sinn. 
a) Der Angriff auf die juristischen Positionen ging zunächst von den 
Naturwissenschaften aus. Die Psychiatrie, die seit den ersten Jahrzehnten 
des 19. Jahrhunderts rasch zu dem Rang einer exakten Wissenschaft sich empor- 
gearbeitet hatte, vermochte in zahlreichen Fällen eine Erkrankung der Psyche 
als die Ursache begangener Verbrechen nachzuweisen. Mochten auch die Juristen 
hartnäckig jeden Fuß des Bodens verteidigen, der bis dahin zu dem von ihnen 
unbestritten beherrschten Gebiet gehört hatte, mochten sie auch für das ihnen 
verbleibende Gebiet um so nachdrücklicher die Lehre von der ursachlosen 
Willensentschließung behaupten: die Frage nach der Ursache war nun einmal 
gestellt und konnte nicht wieder verschwinden. 
Die wissenschaftliche Grundlage, von der aus die Angriffe auf die herr- 
schende Auffassung unternommen wurden, war zusehends in rascher Aus- 
dehnung begriffen. Die Schädellehre und die Gehirnforschung bemächtigten
	        
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