A. Das Strafrecht. III. Neue Ideen. 255
sich des Problems der Kriminalität. ‚Verbrecherschädel‘‘ und ‚Mördergehirne‘“
wurden untersucht (Schwekendiek, Flesch, Benedikt u. a.); und bald dehnten
sich die Forschungen aus auf die gesamte Anatomie, Physiologie und Psychologie
des Verbrechers: sein Körperbau, seine Funktionen, sein psychisches Leben
wurden geprüft und gemessen, damit die Anomalien festgestellt werden könnten,
durch die der Verbrecher sich abheben sollte vom Normaltypus des Menschen. Lombroso.
Mitten in diese Entwickelung hinein, die bereits angefangen hatte, die
weiteren Kreise der Gebildeten zu beschäftigen, fiel das Auftreten des Turiner
Arztes Cesare Lombroso (} 1909). Ausgestattet mit lebhafter Phantasie und
großer Kraft der Synthese, unbeirrt durch die kleinliche Forderung exakter
Beobachtung und vorsichtiger Deutung der gefundenen Ergebnisse, unterstützt
durch eine ganze Reihe von überzeugten Anhängern (unter denen Enrico Ferri
und Garofalo die ersten und bedeutendsten waren) und vorwärts gedrängt von
kampflustigen und reklamekundigen Schülern, begann er (1871—1878) damit,
sein Lehrgebäude vom uomo delinquente zusammenzutragen und der Mit-
welt zu verkünden. Ihm ist der Verbrecher oder doch der eigentliche, der ge-
borene Verbrecher (der delinquente nato), eine selbständige Art innerhalb des
Gattungsbegriffes des homo sapiens, ein ausgeprägter anthropologischer Typus.
Und Lombroso hat auch die Erklärung für diese merkwürdige Erscheinung zur
Hand; oder richtiger, gleich eine Mehrzahl von Erklärungen: der verbrecherische
Mensch ist eine atavistische Erscheinung, ein Rückfall in die Eigenart des Ur-
menschen oder des Kindes; oder ein Erzeugnis epileptoider Entartung oder
des moralischen Irreseins. Trotz der Mangelhaftigkeit der wissenschaftlichen
Grundlage und trotz der offensichtlichen Schwäche der einander direkt wider-
sprechenden Erklärungen bildete sich in wenig Jahren eine neue strafrechtliche
Schule, die „kriminal-anthropologische‘‘. In Italien selbst führte sie einen er-
bitterten Kampf gegen die klassischen Juristen, als deren Wortführer Lucchini
in die Arena stieg. Bald breitete sie sich aber auch über die Grenzen ihres
Mutterlandes aus, um besonders in den südromanischen Ländern diesseits wie
jenseits des Atlantischen Ozeans feste Wurzeln zu fassen.
Der Kampf ist heute zu Ende geführt; das Urteil über Lombroso und seine
Schule steht fest. Das Verdienst der italienischen Kriminalanthropologen liegt
darin, daß sie die Frage nach der Eigenart des Verbrechers auf breitester em-
pirischer Grundlage gestellt und reiches, freilich der Überprüfung dringend be-
dürftiges Material zu ihrer Lösung zusammengetragen haben. Wir wissen heute,
daß zwar nicht der Verbrecher an sich, wohl aber gewisse Gruppen von Ver-
brechern durch die verschiedensten Anomalien von dem Typus des Menschen,
soweit ein solcher festgestellt werden kann, sich unterscheiden. Aber ebenso
sicher ist es, daß alle diese Atypien nicht zur Aufstellung eines besonderen Ver-
brechertypus berechtigen. Wir wissen ferner, daß es sich in diesen Fällen meist
um erblich belastete und daher degenerierte Individuen handelt, die durch ge-
wisse, allerdings durchaus nicht konstante Degenerationszeichen (Stigmata)
von den normalen sich abheben und mit ihrem labilen psychischen Gleich-
gewicht die Prädisposition zur Entgleisung auf der Bahn des Lebens, nicht not-