Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Das Strafrecht. III. Neue Ideen. 257 
längerer Jahrperioden bewies, daß man die Konstanz der Kriminalitätsziffern 
weit überschätzt hatte, daß vielmehr in diesen Zahlenreihen ausgeprägte und 
lebhafte Strömungen und Gegenströmungen sich geltend machen. Es lag daher 
nahe, die Kurven der Kriminalität im ganzen und in den Bestandteilen, aus 
denen sie sich zusammensetzen, zu vergleichen mit den Kurven anderer gesell- 
schaftlicher Erscheinungen, um aus dem Parallelismus oder Antagonismus oder 
der Indifferenz der Kurven auf das Vorliegen oder das Fehlen kausaler Be- 
ziehungen zu schließen. 
Die Lösung dieser Aufgabe ist dem 20. Jahrhundert vorbehalten geblieben. 
Wir stehen noch in den ersten Anfängen einer wissenschaftlichen Feststellung 
derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse, durch welche die Kriminalität be- 
stimmt wird. Daß wir bisher keine befriedigenderen Ergebnisse zu verzeichnen 
haben, erklärt sich einmal daraus, daß die wichtigsten gesellschaftlichen Ver- 
hältisse, deren Kausalität zu vermuten wir allen Grund haben, wie etwa die 
Kaufkraft des Arbeitslohnes, der statistischen Feststellung erst allmählich 
zugänglich gemacht worden sind. Der Grund liegt, von anderen abgesehen, 
ferner aber auch darin, daß wir immer noch mit den großen statistischen Durch- 
schnittszahlen zu arbeiten pflegen, deren wirklicher Wert um so geringer wird, 
je verschiedenartiger die einzelnen Zahlen sind, aus denen sie sich zusammen- 
setzen. So sind z.B. die Durchschnittsziffern des Diebstahls für das ganze 
Deutsche Reich so gut wie unbrauchbar, da die einzelnen Gebietsteile an diesem 
Delikt ganz ungleich stark beteiligt sind. 
Nur wenige Sätze können heute bereits als feststehend angesehen werden. 
Mit der Zunahme von Bildung und Wohlstand werden die schweren Formen 
der Kriminalität durch leichtere ersetzt, treten Betrug und Ausbeutung an die 
Stelle der Gewalt. Die Vermögensdelikte, unter ihnen der durch die Höhe seiner 
absoluten Ziffern am schwersten ins Gewicht fallende Diebstahl, wachsen bei 
ungünstiger wirtschaftlicher Lage, während sie bei günstiger Gestaltung der 
wirtschaftlichen Verhältnisse sinken. Wenn trotz des Wachstums von Bildung 
und Wohlstand die Delikte gegen Staat, Religion und öffentliche Ordnung sowie 
die Delikte gegen die Person zunehmen, so liegt das an der Gestaltung des 
Kampfes ums Dasein, durch den einerseits die Interessengegensätze bis zum 
Klassenkampf gesteigert, durch den anderseits die Tüchtigkeit der Nachkommen- 
schaft gefährdet wird. 
c) Wie aber auch das Ergebnis künftiger wissenschaftlicher Forschung auf 
dem anthropologischen oder soziologischen Gebiet ausfallen möge — an dem 
Satz wird sie nicht rütteln können, der das Kennwort der sog. jungdeutschen 
Kriminalistenschule bildet: „Das Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart 
des Verbrechers und den ihn umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen.‘ 
Durch die Forderung nach einer wissenschaftlichen Kriminalätiologie wird 
die dogmatisch-juristische Konstruktion des Verbrechens, als des eigenartigen 
rechtlichen Tatbestandes, an den die Rechtsfolge der Strafe durch den Gesetz- 
geber geknüpft wird, in keiner Weise berührt. Aber dem heutigen Kriminalisten 
ist diese Konstruktion nicht mehr die einzige und lange nicht mehr die höchste 
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 17
	        
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