Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

258 FRANZ voN LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht. 
Leistung der Strafrechtswissenschaft. Ungleich höher als die Weiterbildung 
der Begriffsjurisprudenz steht ihm die Erforschung der Ursachen, durch die das 
Verbrechen als Erscheinung im Leben des einzelnen wie als Erscheinung des 
gesellschaftlichen Zusammenlebens bedingt und bestimmt wird. 
Die Kriminal- 2. Die Kriminalpolitik. Mit dieser veränderten Auffassung des Ver- 
polfk  brechens mußte aber auch die Auffassung von Wesen und Zweck der Strafe sich 
wesentlich umgestalten. Ist das Verbrechen nichts anderes als ein juristischer 
Begriff, so mag die Auffassung der Strafe als der Negation des Unrechts genügen. 
Sieht man in dem Verbrechen aber die brutale Tatsache, die über das Leben des 
einzelnen hinaus zur Massenerscheinung des gesellschaftlichen Lebens sich ver- 
dichtet, so muß die Strafrechtswissenschaft zu der Frage gelangen, ob man 
dieser in ihren Ursachen erkennbaren Erscheinung nicht vorbeugend begegnen 
könne. Der Gedanke der ‚Bekämpfung des Verbrechens‘ beginnt immer weitere 
Verbreitung und immer ernstere Bedeutung zu erlangen, je mehr wir uns dem 
Ende des Jahrhunderts nähern. Damit hält die Kriminalpolitik ihren Einzug 
in die Strafrechtswissenschaft. 
Die Aufgabe der a) Die wirksamste Art der Bekämpfung des Verbrechens wird diejenige 
“ sein, durch die wir das Übel an seiner Wurzel fassen. Darin liegt die Bedeutung, 
die der Sozialpolitik in den Augen des heutigen Kriminalisten zukommt. Er 
hat sich bescheiden gelernt. Er weiß nur zu gut, daß die Strafe nicht das Allheil- 
mittel ist, durch das man, wie weite Kreise unseres Volkes auch heute noch 
meinen, jede Erkrankung des Volkslebens heilen könne. Er weiß, um ein Beispiel 
anzuführen, daß die Sittlichkeit der unteren Volksschichten viel besser durch 
eine Änderung der Wohnungsverhältnisse als durch die legislativen Vorschläge 
der Sittlichkeitsvereine gehoben werden kann. 
Aber damit ist die gesellschaftliche Funktion der Strafe nicht geleugnet. 
Es wird von allen Seiten zugegeben, daß die Androhung der Strafe, als das in 
der feierlichsten Form ausgesprochene Unwerturteil der Gesellschaft über die 
verpönte Tat, von der Verübung des Verbrechens abzuhalten vermag; und daß 
diese generalprävenierende Wirkung verstärkt wird durch die Vollstreckung 
der Strafe an dem Verbrecher. Es wird ferner von keiner Seite bestritten, daß 
der Vollzug der Strafe so gestaltet werden kann, daß er den Verbrecher selbst 
von der künftigen Begehung von Verbrechen abzuhalten vermag, sei es durch 
Anpassung des Verbrechers an die Gesellschaft auf dem Wege der Besserung 
oder der Abschreckung, sei es durch die Ausscheidung des Unverbesserlichen 
aus der Gesellschaft. 
Diese Auffassung gibt uns aber zugleich den kritischen Maßstab für die 
Wertung des geltenden Rechtes und die Zielpunkte für seine Umgestaltung; 
den Maßstab, den die Philosophie und die auf diese sich stützende Vergeltungs- 
theorie uns zu geben niemals vermocht hat. Dieser Maßstab liegt in der Zweck- 
mäßigkeit der Strafe, also in ihrer Eignung, die Rechtsordnung wirksam zu 
schützen. Alle die Forderungen der 1889 gegründeten Internationalen 
Kriminalistischen Vereinigung, in der sich die Bestrebungen der modernen 
Kriminalpolitik verkörpert haben, sind aus diesem Gesichtspunkt heraus zu
	        
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