Nationale Eigen-
tümlichkeiten.
8 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
sache der Rechtsschöpfungen uud Rechtsänderungen aufgestellt und doch
als unbedingte Einheit über dem Wandel der Völkergeschichte behauptet, un-
abhängig von den einzelnen Veränderungen und von ihnen selbst nicht ver-
ursacht.
Bei allen diesen Erwägungen ist scharf festzuhalten, daß man nicht die
‚„Volksseele‘‘ mit nationalen Eigentümlichkeiten verwechseln darf, die
sich als verhältnismäßig übereinstimmende Eigenschaften der Angehörigen
eines Rechtsganzen beobachten lassen. In diesem Sinne wird der nationale
Charakter oder Geist nicht als ein unveränderliches Urding außerhalb des Wan-
dels der geschichtlichen Daten aufgestellt, sondern als gemeinsame Eigen-
schaften, die sich aus einem bestimmten sozialen Leben heraus auf Grund ge-
wisser Anlagen gebildet haben, durch historisch gegebene und sich entwickelnde
gesellschaftliche Verhältnisse beeinflußt sind und sich im Laufe der Geschichte
unaufhörlich verändern.
In solche bedingte und geschichtlich wechselnde Art eines sozialen Lebens
finden wir den einzelnen hineingestellt. Ihr entnimmt er in starken Eindrücken
die Weise seines Daseins. Sprache, Sitte, Recht treten ihm aus der Verbunden-
heit mit anderen in bestimmenden Wirkungen entgegen, sie selbst, als Äuße-
rungen geschichtlichen Gemeinschaftslebens, historisch bedingt und stetem
Wechsel, nimmer rastender Veränderung unterworfen. Und diesem Gemein-
schaftsleben gibt wieder ein jeder sein Teil einwirkend und ändernd zurück,
ein jeder in seiner Lage recht verschieden wohl in Stärke und Art, und doch
ein jeder. So sind es für die besondere Betrachtung unübersehbare Kompli-
kationen, in denen die Einwirkung des sozialen Lebens auf den einzelnen und
die Rückgabe des Seinigen an die Gesellschaft sich vollzieht, aber für die
methodische Erwägung der Herkunft gemeinsamer Charakterzüge ist es
allein der Gedanke werdender Eigenschaften von einzelnen Menschen,
der hier den ordnenden Ausblick uns gibt.
Es wäre gewiß verkehrt, wenn jemand sich das Gemeinschaftsleben
der Menschen nur als eine Summierung von isoliert gedachten Individuen
vorstellen wollte. Aber es ist auch nicht veranlaßt, die soziale Art des Men-
schendaseins selbst zu hypostasieren und den summierten Einzelnen als eigenes
Lebewesen gegenüberzustellen, das in jenen nun notwendig gemeinsame
Überzeugungen bewirke. Nein, es ist eine qualitativ eigene Wirkung so-
zial verbundener Individuen aufeinander, und der Gedanke dieser wechsel-
seitigen Einwirkung genügt vollständig, um das Werden gemeinsamer Cha-
rakterzüge bei den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft wissenschaftlich
zu erklären, oder doch deren natürliche Erklärung als methodisch möglich
erscheinen zu lassen, mag immer die konkrete Klarlegung dieses oder jenes
genetischen Zusammenhanges bei der Betrachtung von besonderem Material
der Rechtsgeschichte allzu große Schwierigkeiten der Lösung bereiten.
Die wechselseitige Reibung, deren eigenartiges Walten bedeutsam auf
die einzelnen Gemeinschaften wirkt, vollzieht sich keineswegs bloß innerhalb
eines bestimmten Volkes. Die nationalen Eigentümlichkeiten wechseln auch