Die neuen Straf-
gescetzentwürfe.
260 FRANZ voN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.'
das akademische Bürgerrecht ringt, die aber in Kürze die ältere Schwester in
den Schatten gestellt haben wird: die auf die Ätiologie der Kriminalität ge-
stützte Kriminalpolitik.
Wissenschaftliche Erforschung der Ursachen des Verbrechens und systema-
tische Bekämpfung des Verbrechens: in diesen beiden Aufgaben liegen die
neuen Ideen, die das sinkende 19. Jahrhundert zu dem von seinem Vorgänger
übernommenen Erbe hinzugefügt hat, um ihre Verwirklichung den kommenden
Geschlechtern zu hinterlassen.
IV. Die neuen Strafgesetzentwürfe. Die Entwickelung des Straf-
rechts seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts führt über die Rahmen dieser Dar-
stellung hinaus; sie kann daher hier nur in den äußersten Umrissen angedeutet
werden. Zuerst hat das norwegische Strafgesetzbuch von 1902 (siehe oben
S. 238) die neuen Ideen legislativ verwertet. Ungefähr gleichzeitig begann
die Schweiz (Stooß) mit den Vorarbeiten für ein eidgenössisches Strafgesetz-
buch. Der erste Vorentwurf, erschienen 1893/94, ist seither wiederholt um-
gearbeitet worden. Gegenwärtig ist die Kommission damit befaßt, den Ent-
wurf von 1908 zum Regierungsentwurf zu gestalten. Österreich hat nach langen
Vorarbeiten (die Entwürfe von 1879 bis 1891 stehen auf dem Boden des geltenden
deutschen Rechts) mit dem Entwurf von 1909 in die neuen Bahnen eingelenkt;
1912 wurde er umgearbeitet als Regierungsvorlage im Herrenhaus eingebracht.
Das Deutsche Reich ist nicht zurückgeblieben. Durch eine rechtsverglei-
chende Darstellung in 16 Bänden, die 1909 abgeschlossen vorlag, war eine Grund-
lage für die legislativen Arbeiten geschaffen worden, wie sie kein anderes Volk
aufzuweisen vermag. Durch eine 1906 zusammenberufene Kommission wurde
ein 1909 veröffentlichter Vorentwurf aufgestellt, der gegenwärtig durch eine
neue Kommission zum Regierungsentwurf umgearbeitet werden soll.
Alle diese Entwürfe tragen den kriminalpolitischen Forderungen im wei-
testen Umfang Rechnung. Sie ergänzen das Strafensystem durch ein reich-
gegliedertes System von bessernden und sichernden Maßnahmen. Sie bilden
so den Markstein für eine neue Periode der Strafgesetzgebung. Die des 19. Jahr-
hunderts ist damit endgültig überwunden.
B. Das Strafprozeßrecht.
I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. Auch die Straf-
prozeßgesetzgebung des 19. Jahrhunderts wird beherrscht durch die Ideen der
Aufklärungszeit, die ihre abschließende Verwirklichung in dem von der großen
französischen Revolution geschaffenen ‚‚reformierten‘‘ Strafverfahren gefunden
hatten. Von den Gebieten des englisch-amerikanischen Rechtes abgesehen,
vollzieht sich in allen anderen Ländern während der ganzen Dauer des Jahr-
hunderts die Rezeption des französischen Prozesses.
I. Im Anfange des Jahrhunderts stehen die deutschen Einzelstaaten sowie
die übrigen kontinentaleuropäischen Länder außer Frankreich noch durchaus
auf dem Boden des Inquisitionsprozesses.