B. Das Strafprozeßrecht. I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. 261
Freilich war die Folter dem Ansturm der Aufklärer erlegen und damit der Der Inquisitiors-
Fundamentalsatz der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. erschüttert worden,
daß Verurteilung zu peinlicher Strafe niemals auf Grund von Indizien, sondern
immer nur auf Grund des Geständnisses des Angeklagten oder der überein-
stimmenden Aussage zweier einwandfreier Zeugen erfolgen dürfe. Aber im
übrigen hatte man die im 16. Jahrhundert festgelegten Grundgedanken des
Verfahrens beibehalten und nur nach einzelnen Richtungen weitergebildet.
Dies gilt auch von den Gesetzgebungen der größten deutschen Einzel-
staaten; von den Prozeßordnungen Österreichs (1803), Preußens (1805) und
Bayerns (1813), die untereinander eine weitgehende Übereinstimmung auf-
weisen. Die Verfolgung wird von Amts wegen eingeleitet. Aber eine Anklage-
behörde fehlt, der Inquirent stellt unter schriftlicher Aufzeichnung des Ergeb-
nisses der Beweisaufnahmen den Tatbestand fest. Der Inquisit ist Objekt der
Untersuchung, nicht Prozeßsubjekt mit selbständigen prozessualischen Rechten;
der Verteidigung, meist erst nach Abschluß der Untersuchung zugelassen, ist
ein engumschriebener Spielraum zugewiesen. Das erkennende Gericht, aus be-
amteten Richtern zusammengesetzt, urteilt auf Grund der Berichte, die ihm
über den Akteninhalt schriftlich erstattet werden; es bekommt den Angeklagten
nicht zu Gesicht, auch die Beweisergebnisse kennt es nur aus den Akten. Eine
bis ins einzelne ausgearbeitete Beweistheorie bindet das freie Ermessen des
Richters; in gesetzlichen Beweisregeln schreibt sie ihm vor, daß er eine Tat-
sache als bewiesen anzusehen habe, wenn, aber auch nur wenn, für sie Beweis-
mittel von gesetzlich bestimmter Beweiskraft, etwa die Aussage zweier klassischer
Zeugen, vorliegen (positive Beweistheorie). Bei Indizienbeweis ist die Verur-
teilung zur Todesstrafe ausgeschlossen. Neben den beiden Urteilsformen der
Freisprechung und Verurteilung gibt es verschiedene Zwischenformen: die Ver-
hängung einer außerordentlichen Strafe und die Entbindung von der Instanz;
hier können polizeiliche Sicherheitsmaßregeln ergriffen werden und die Wieder-
aufnahme ist an "keine besonderen Voraussetzungen geknüpft. Der Regelung
des Rechtsmittelzuges wird, allerdings unter vielfachen Schwankungen, be-
sondere Sorgfalt gewidmet.
2. Um dieselbe Zeit, der diese Prozeßordnungen entstammen, hatte die
französische Gesetzgebung bereits einen bedeutsamen Schritt nach vor-
wärts gemacht. Die Konstituierende Versammlung hatte schon 1791 das Straf-
verfahren reformiert. Zustatten kam ihr dabei, daß sie das Institut der Staats-
anwaltschaft (ministere public) bereits vorfand, das sich in Frankreich mit dem
Erstarken der königlichen Gewalt entwickelt hatte, während auf deutschem
Boden die Ansätze zu einer öffentlichen Anklagebehörde verkümmert waren.
Damit war die Möglichkeit gegeben, das Strafverfahren zu einem actus trium
personarum, zu einem wirklichen Prozeß zu machen, es zum Anklage- oder
Parteiprozeß zu gestalten. Weiter bot das englische Recht, das freilich in
Frankreich nur oberflächlich gekannt und vielfach mißverstanden wurde, eine
Fülle von Anregungen. So wurde der „endliche Rechttag‘‘, der schon nach der
Peinlichen Gerichtsordnung von 1532 zur leeren Formalität herabgesunken und
prozeß.
Das französische
Strafverfahren.