Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

262 FRANZ von Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht. 
nur „um des gemeinen Mannes willen‘‘ beibehalten war, zur entscheidenden 
öffentlichen und mündlichen Verhandlung zwischen den Parteien gestaltet. 
Noch wichtiger war es, daß die gesetzliche Beweistheorie fiel und der Richter 
fortan die ihm in der Hauptverhandlung unmittelbar vorgeführten Beweise 
nach seiner freien Überzeugung zu würdigen hatte. Der Dreiteilung der straf- 
baren Handlungen (oben S. 246) entsprach die Verteilung der sachlichen Zu- 
ständigkeit unter die Gerichte erster Instanz: die Übertretungen wurden an 
Einzelrichter (tribunaux de simple police), die Vergehen an die kollegialen Zucht- 
polizeigerichte (tribunaux de police correctionelle) gewiesen; für Verbrechen wurde 
das englische Schwurgericht (cours d’assises) neu eingeführt. Auf der erst- 
instanzlichen Gerichtsbarkeit baute sich ein wohlgeordneter Rechtsmittelzug auf. 
Der code d’instruction criminelle von 1808 hielt an den Grundgedanken 
von 1791 fest, änderte aber manche Einzelheiten und beseitigte insbesondere 
die ebenfalls aus England übernommene Anklagejury, die über die Versetzung 
in Anklagezustand zu entscheiden hatte. 
Bei der Würdigung des französischen Strafprozesses darf nicht übersehen 
werden, daß das Verfahren in zwei (genauer drei) ganz verschiedenartig ge- 
staltete Abschnitte zerfällt. Die Grundsätze der Öffentlichkeit und der Münd- 
lichkeit wie der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme beherrschen nur die 
Hauptverhandlung. Bei allen Anklagen wegen Verbrechen oder schweren 
Vergehen geht der Hauptverhandlung eine Voruntersuchung voran, die, nach 
der ursprünglichen Anlage des Gesetzes (also bis 1897), keine kontradiktorische 
Verhandlung zwischen den Parteien kannte, sich nicht in der Öffentlichkeit, 
sondern in den geschlossenen Räumen des Untersuchungsrichters abspielte und 
daher trotz der Beseitigung der Folter und der Ungehorsamsstrafen durchaus 
den Charakter des alten Inquisitionsprozesses trug. In allen Fällen, in welchen 
eine Voruntersuchung stattfindet, schiebt sich aber zwischen die beiden Haupt- 
abschnitte des Verfahrens noch ein dritter ein: die Entscheidung über die Ver- 
setzung in den Anklagestand, eine Entscheidung, die von dem dazu berufenen 
Richter (gerade in der Bestellung dieses Organs weist die französische Gesetz- 
gebung eine ganze Reihe von wenig gelungenen Experimenten auf) auf Grund 
der Akten, also ohne unmittelbare Vorführung der Beweise, gefällt werden muß. 
Dieses französische System hat dem Strafprozeß des 19. Jahrhunderts 
seinen Stempel aufgeprägt. Es hat seinen Siegeslauf durch fast alle Länder 
der Kulturgemeinschaft gemacht. Nur in Einzelheiten zeigen sich Abweichungen. 
So haben manche Staaten (auch die Niederlande) das Institut der Schwurgerichte 
nicht aufgenommen; andere haben das englische Vorbild getreuer nachzuahmen 
versucht. Die beachtenswerteste der verschiedenen Strafgesetzgebungen des 
19. Jahrhunderts ist die von Glaser gearbeitete österreichische Strafprozeß- 
ordnung von 1873. Frankreich hat durch ein Gesetz von 1897 die Vor- 
untersuchung kontradiktorisch zu gestalten versucht, ohne jedoch zu allgemein 
befriedigenden Ergebnissen zu gelangen. Umgekehrt hat England durch Ein- 
führung der Staatsanwaltschaft (1879) mit wenigstens subsidiärer Verfolgungs- 
pflicht sich dem französischen System genähert.
	        
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