B. Das Strafprozeßrecht. I. Der Entwicklungsging im 19. Jahrhundert. 263
3. Auf deutschem Boden wurde bald nach den Befreiungskriegen die Pie deutsche
Forderung nach einer Umgestaltung des Strafverfahrens nach französischem an “
Vorbild laut. Man verlangte den Anklageprozeß mit Staatsanwaltschaft und
Sicherung der Prozeßstellung des Beschuldigten; eine öffentliche mündliche
Hauptverhandlung mit unmittelbarer Vorführung der Beweismittel und freier
Beweiswürdigung; vor allem aber die Einführung des Schwurgerichts, das der
Rechtsprechung in Strafsachen die Unabhängigkeit gegenüber den politischen
Machthabern und die Fühlung mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes sichern
sollte.
Trotz aller Zweifel und Bedenken, die von den Freunden des Inquisitions-
prozesses geltend gemacht wurden, war etwa um die Mitte der 20er Jahre der
Sieg für die Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und freien Beweis-
würdigung entschieden. Länger wogte der Kampf um die Schwurgerichte hin
und her; noch auf den Germanisten-Versammlungen zu Frankfurt a. M. 1847
und Lübeck 1848 standen sich die Freunde und Gegner der Geschworenen
schroff gegenüber. Die Gesetzgebung fand vor 1848 nicht den Mut, sich den
Reformbestrebungen rückhaltlos zu fügen. Nur in Einzelheiten war man bereit,
nachzugeben, um damit den Fortbestand des alten Prozesses um so besser zu
sichern. So hat Sachsen 1838 die außerordentliche Strafe beseitigt; Württem-
berg 1843 und Baden 1845 haben an die Stelle der positiven (oben S.261) die
negative Beweistheorie gesetzt, so daß der Richter eine Tatsache nur dann als
bewiesen annehmen durfte, wenn Beweismittel von einer bestimmten Be-
weiskraft vorlagen, aber selbst in diesem Falle die Tatsache nicht als bewiesen
annehmen mußte. Preußen 1846 (Gesetz betreffend die bei dem Kammer-
gericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen)
ging noch einen Schritt weiter und nahm den Grundsatz der freien Beweis-
würdigung auf.
Die Revolutionsjahre brachten den völligen Sieg des französischen Systems.
In den meisten deutschen Staaten ergingen nach 1848 ‚‚reformierte‘‘ Straf-
prozeßordnungen, welche die Grundgedanken des französischen Gesetzes auf-
nahmen. Zu erwähnen wäre die Braunschweigische Strafprozeßordnung von 1849
(mit teilweisem Anschluß an das englische Recht), die Hannöversche von 1850
und die Preußische für die neuen Provinzen von 1867. Nur in den beiden
Mecklenburg, in Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold blieb man bei dem
gemeinen Inquisitionsprozeß stehen; in diesen vier Staaten sowie in Sachsen-
Altenburg und Lübeck fanden auch die Schwurgerichte keinen Eingang.
Unter diesen Umständen war nichts anderes zu erwarten, als daß auch Pie Reichs
die bereits 1869 in Angriff genommene, aber erst am I. Februar 1877 an.
publizierte Deutsche Strafprozeßordnung nebst dem Gerichtsverfassungsgesetz
vom 27. Januar desselben Jahres an den Grundgedanken des französischen
Rechtes festhalten würde. Leider übertrifft das deutsche Gesetz aber sein
französisches Vorbild noch in dem Mangel an innerer Geschlossenheit. Die
Deutsche Strafprozeßordnung ist nach längeren parlamentarischen und außer-
parlamentarischen Kämpfen durch ein Kompromiß der widerstreitenden Par-