B. Das Strafprozeßrecht. III. Neue Ideen? 271
entscheidenden Beweisaufnahmen; sie macht den Untersuchungsrichter zum
unmittelbaren Nachfolger des alten Inquirenten, indem sie ihm die Sammlung
des Belastungs- wie des Entlastungsmaterials und zugleich die richtige Ab-
wägung des Ergebnisses überträgt; sie führt zu einer Vergeudung der Kraft,
indem sie dem Staatsanwalt, der ja auch für die Beschaffung des Entlastungs-
materials zu sorgen hat, die gleiche Aufgabe wie dem Uhntersuchungsrichter
überträgt; sie gefährdet durch die Gestaltung der Untersuchungshaft die Frei-
heit des Angeschuldigten. Und welchen Wert soll ein Eröffnungsbeschluß
haben, der auf Grund eines von dem Referenten erstatteten aktenmäßigen
Berichts ergeht und alle Verantwortung dem erkennenden Richter überweist?
Sobald aber die Frage aufgeworfen wird, was an Stelle des gegenwärtigen Ver-
fahrens zu setzen sei, ob man den Untersuchungsrichter und mit ihm die ganze
gerichtliche Voruntersuchung beseitigen oder aber diese reformieren solle, ist
eine Übereinstimmung der Meinungen nicht mehr zu erzielen.
Über die mangelnde technische Vorbildung unserer kriminalistischen Prak-
tiker, Staatsanwälte und Richter wird seit Jahren geklagt. Die Verfolgung, die
Untersuchung, die Aburteilung der Verbrechen liegt in den Händen von Ju-
risten, denen die Kenntnis des Verbrecherlebens, die Einsicht in das Getriebe
der Industrie, des Handels, des Bank- und Börsenwesens, denen die einfachsten
Erfahrungstatsachen der Psychologie und Psychiatrie, denen aber auch die
Fertigkeit in der Aufsuchung und Feststellung der Spuren des Verbrechens
völlig mangelt. Die beste Arbeit wird noch von der Kriminalpolizei geleistet.
Ohne diese wäre unsere Strafjustiz völlig lahmgelegt. Aber vergebens ist eine
berufsmäßige Ausbildung der Richter und Staatsanwälte von den verschie-
densten Seiten verlangt worden; vergebens haben Hans Groß und andere das
gesamte für eine solche Vorbildung erforderliche Material zusammengetragen
und die ‚„Kriminalistik‘‘ zu einer selbständigen Wissenschaft erhoben: es ist
alles beim alten geblieben, und auch nicht das leiseste Anzeichen spricht dafür,
daß es in absehbarer Zeit besser werden sollte.
So hat auf dem Gebiete des Strafprozesses das 19. Jahrhundert es nicht
einmal zu einer klaren Problemstellung, geschweige denn zu einem Programm
gebracht. Nur bezüglich des Strafverfahrens gegen Jugendliche (Entwurf eines
Sondergesetzes von 1912) hat sich eine Klärung der Ansichten in der Richtung
vollzogen, daß die Strafe durch pädagogische Maßregeln, der Strafrichter durch
die Vormundschaftsbehörde soweit als irgend möglich ersetzt werden sollen. Im
übrigen bleibt für das Jahrhundert, in dem wir leben, so gut wie alles zu tun.
Das kann uns nicht wundernehmen. Der Strafprozeß dient der Durch-
setzung des Strafrechts. Erst wenn auf diesem Gebiete die neuen Ideen die
Anerkennung und Ausführung durch den Gesetzgeber gefunden haben werden,
dürfen wir erwarten, daß auch das Verfahren, das wir heute Strafprozeß nennen,
eine wesentlich neue Gestaltung gewinnt. Ob dann mit dem Wesen der Sache
nicht auch die Bezeichnung sich ändern wird, ob die Ausübung der gesell-
schaftlichen Schutzfunktion nicht völlig neue Organe und durchaus neue
Formen aus sich herausbilden wird — wer vermöchte das heute schon zu sagen?