Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

274 WILHELM KAHL: Kirchenrecht. 
Frankenreiches selbst (887). Gegenteilig gewinnt es in der ostfränkischen 
Hälfte, im älteren deutschen Reich, einen neuen Stützpunkt in dem seit Otto 
dem Großen mit dem deutschen Königtum dauernd verbundenen römischen 
Kaisertum (963). Diese Realunion verhilft dem kanonischen Recht zu 
seiner Stellung als Weltrecht. Zwar tritt ihm beschränkend bald ein selb- 
ständiges deutsches Reichskirchenrecht und seit Ausbildung der Landes- 
hoheit ein vielgestaltetes territoriales Kirchenrecht zur Seite. Auch muß 
es in manchen Staaten, vorab in der ehemals westlichen Reichshälfte, in Frank- 
reich, zuzeiten gewaltig um seine Herrschaft ringen. Aber die Nationalität 
hat auch hier die Universalität nicht aufzulösen vermocht. Das kanonische 
Recht bleibt das Kirchenrecht des Mittelalters schlechthin. 
Zerbrochen wird diese Ein- und Alleinherrschaft erst durch die Refor- 
mation, staatsrechtlich anerkannt seit 1555. Das protestantische Kirchen- 
recht tritt ein. Nunmehr eröffnen sich wiederum neue Entwickelungskreise. 
Drei Tatsachen bestimmen ihre Bewegung und Begrenzung: die mit der Refor- 
mation notwendig geschehene Lösung der Einheit von Staat und Kirche, die 
konfessionelle Scheidung innerhalb des Protestantismus, der Dualismus im 
deutschen Staatensystem. 
Durch die Lösung der Einheit ist fortan die Entstehung und Ausbildung 
einer interkonfessionellen Staatskirchengesetzgebung bedingt. Durch 
die innerkirchlich konfessionelle Spaltung entstehen die selbständigen Kreise 
eines lutherischen und reformierten Kirchenrechts, welche anfangs gegen- 
sätzlich auseinanderstreben, um sich erst im 19. Jahrhundert in den Unionen 
wieder zu nähern. Durch den Dualismus des Staatensystems endlich sondern 
sich endgültig die Kreise eines gemeinen und partikulären Kirchenrechts. 
Das partikuläre erhält und behält das Übergewicht. So schon im älteren 
Reich. Seine Gesetzgebung hat sich kirchenrechtlich mit dem Westfälischen 
Frieden (1648) wesentlich erschöpft. Sein letztes Gesetz, der Reichsdeputations- 
hauptschluß (1803), hat mehr nur auflösend in die bestehende kirchenrechtliche 
Ordnung eingegriffen. Im Rheinbund (1806—1813) und Deutschen Bund 
(1815— 1866) blieb alles Kirchenrecht partikulär. Im neuen Reiche kon- 
kurrieren wieder Reichs- und Landeskirchenrecht. 
Aufgabe, Ich wiederhole: ein weiter und verschlungener Weg vom Kirchenrecht der 
römischen Staatskirche durch das heilige römische Reich deutscher Nation bis 
ins neue Reich. Ihn zu durchwandern ist hier die Aufgabe nicht. Nur eben 
wenige auf der Höhe stehende Grenzsteine mußten den äußeren Gang der 
Entwickelung weisen. Denn auch das Kirchenrecht ist nur als geschichtlich 
gewordener und bedingter Bestandteil des Kulturlebens der Gegenwart zu ver- 
stehen. Seine Würdigung in dieser, wie die Bestimmung seiner Ziele für die 
Zukunft hat sich gewissenhaft diese geschichtliche Gebundenheit vor Augen 
zu halten. Beide ermangeln sonst der Unbefangenheit in Kritik und Prognose. 
Die hier gestellte Aufgabe umfaßt aber nicht die Geschichte selbst, sondern ihr 
in lebendiger Anwendung sich darstellendes Resultat: das geltende Recht. 
Auch dieses nur in den großen Querdurchschnitten seiner aktuellen Probleme,
	        
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