Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Weihegewalt. 
280 WILHELM Kanur: Kirchenrecht. 
Klerikerstande ruht. Er ist die regierende, der Laienstand die gehorchende 
Kirche. Das Grundproblem evangelischer Verfassung, ‚das Gemeindeprinzip, 
scheidet aus. 
Jene Kirchengewalt selbst hat eine doppelte Richtung. Sie ist Weihe- 
gewalt (potestas ordinis), sofern sie die Vollmacht zur Vermittelung des 
göttlichen Heiles zum Inhalte hat. Sie ist Regierungsgewalt (potestas 
jurisdictionis), soweit sie sich auf die äußere Leitung der Kirche bezieht. 
Von beiden Richtungen der Kirchengewalt ist die erstere die primäre. 
Ihr Besitz ist Voraussetzung für die Teilnahme an der Jurisdiktion. 
Erworben wird die Weihegewalt durch die Ordination. Siebenfach 
gegliedert wirkt sie für jede Stufe die ihr allein eigentümliche spirituelle Be- 
fähigung. Dadurch bildet sich die Hierarchie der Weihegewalt mit der Unter- 
scheidung der niederen (Ostiariat, Lektorat, Exorzistat, Akoluthat) und der 
höheren (Subdiakonat, Diakonat, Presbyterat) Weihen. Das Priestertum 
ist der höchste Ordo, mit der Befähigung zur Darbringung des Opfers. Nur 
eine quantitative Steigerung innerhalb seiner ist die bischöfliche Konse- 
kration, welche die Ordinationsgewalt selbst, die Befähigung zur Fortpflanzung 
des sacerdotium, verleiht. 
Mit der Ordination ist die Ausscheidung aus dem Laienstande bewirkt. 
Der Ordinierte ist rechtlich berufener Mittler zwischen Gott und dem gemeinen 
Christenvolk geworden. Er hat einen character spiritualis erhalten. Dieser 
Charakter ist für die beiden oberen Stufen der ordines unvertilgbar, indelebilıs. 
Zugleich ist mit dem Eintritt in den Klerikerstand der Erwerb der geistlichen 
Standesrechte und die Übernahme der geistlichen Standespflichten ver- 
bunden. Jene freilich sind in ihrem bürgerlich anerkannten Umfang erheblich 
eingeschränkt; der kanonische Anspruch weitestgehender ‚Immunität‘ ist in 
der neueren Staatsgesetzgebung wesentlich auf gewisse Vergünstigungen hin- 
sichtlich der Übernahme von Ehrenämtern und der Militärdienstpflicht zurück- 
geführt. Ebenso besteht in Deutschland in keinem Sinne ein privilegium fori 
mehr. Das durch Motuproprio vom 9. Oktober Iı91ı ‚Quantavis diligentia‘‘ 
aus den ältesten Rechtsquellen und der constitutio ‚„Apostolicae sedis'‘ von 1869 
reproduzierte Verbot, Kleriker ohne bischöfliche Genehmigung vor ein welt- 
liches Gericht zu ziehen, hat nach amtlicher römischer Erklärung für das 
Deutsche Reich eine rechtliche Geltung nicht. Unter den Standespflichten ist 
der sozialrechtlich bedeutsamste der Zölibat. Nach deutschem bürgerlichen 
Recht bildet zwar die Ordination ein Ehehindernis nicht. Als kirchliche Ordnung 
aber besitzt der Zölibat die stillschweigende staatliche Anerkennung. Von 
Anfang an abgelehnt von der griechischen, neuestens wieder aufgegeben von 
der altkatholischen Kirche, hat er im römisch-katholischen Kirchenwesen den- 
jenigen Dienst geleistet, welchen schon Gregor VII. von ihm erwartete. Durch 
die Loslösung von der Familie hat er das Priestertum als eine jederzeit im 
Dienste der Hierarchie verfügbare Macht reserviert und anderseits in eben 
dieser Isolierung durch die Glorie einer überweltlichen Sittlichkeit seinen Ein- 
fluß auf Familie und Volkstum unermeßlich verstärkt.
	        
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