288 WILHELM Kaur: Kirchenrecht.
rückständig gegenüber den letzten und höchsten Forderungen des reforma-
torischen Prinzips. Aber gerade in der Gegenwart hat der Kampf um diese
mit Energie, zum Teil mit Leidenschaft eingesetzt und der kirchenrechtlichen
Entwickelung neue Ziele gesteckt. Um so weniger ist die Differenz der Prin-
zipien, wie zwischen Katholizismus und Protestantismus, so innerhalb des
letzteren selbst, zu verhüllen.
Als Folge ihrer abweichenden Grundauffassung über das Verhältnis von
Glaube und Recht muß die evangelische Kirche zunächst eine allgemeine Straf-
gewalt wegen Glaubensverbrechen nach Art des kanonischen Rechtes ablehnen.
Wenn älteste Kirchenordnungen hierin noch eine andere Richtung kund-
gegeben haben, so bieten sie nicht eine Norm des Kirchenrechts für die Gegen-
wart, sondern erklären sich als unter die übermächtige Tradition des vor-
reformatorischen Rechtes gebundene geschichtliche Übergänge. An Stelle der
kanonischen Strafgewalt wegen Glaubensverbrechen ist die gemeindliche
Kirchenzucht gegen solche Kirchenglieder getreten, welche sich zu grund-
sätzlichen Ordnungen des kirchlichen Rechtslebens in Widerspruch setzen und
halten. Für Deutschland insbesondere hat nach langem völligen Verfall der
Kirchenzucht die Reichsgesetzgebung über den Personenstand (6 1175), welche
die zwangsweise Verbindung der Staatsangehörigen mit dem Kirchenwesen
und die Staatshilfe zur Erfüllung kirchlicher Verpflichtungen vollends löste,
den Anstoß zur Aufrichtung neuer Kirchenzuchtordnungen gegeben. Sie ist
in allen evangelischen Landeskirchen mit wesentlich übereinstimmendem
Inhalte vor sich gegangen (z. B. Preuß. K.G.v. 30. VI. 80). Hiernach wird
wegen notorisch unkirchlichen Lebenswandels oder Verletzung der besonderen
kirchlichen Pflichten in bezug auf Taufe, Konfirmation, Eheschließung und
Trauung die Kirchenzucht von Pfarrer und Gemeindeorganen unter Vorbehalt
einer synodalen Instanz und des Aufsichtsrechts der Kirchenregimentsbehörden
ausgeübt. Ihre Mittel sind die völlige oder teilweise Entziehung von kirch-
lichen Gemeinde- und Ehrenrechten (Ausschluß vom Abendmahl, Entziehung
von Wahlrecht und Wählbarkeit, Versagung der Trauung und der Taufpaten-
schaft). Daneben haben sich lokal auch wohl noch ältere Formen der Kirchen-
zucht (z. B. Versagung des Myrtenkranzes) erhalten und nahezu allgemein
wird die Versagung des kirchlichen Begräbnisses gegenüber Selbstmördern,
Duellanten usw. als eine Tätigkeit der Kirchenzucht aufgefaßt.
Grundgedanke Auch diese Neuordnung der Kirchenzucht hat im evangelischen Gesamt-
Kirchenzucht. bewußtsein nicht zu Ansehen gelangen können. Dies wird so lange nicht der
Fall sein, als sie nicht in ihrem Grundgedanken reformiert, d. h. der Bruch mit
dem katholischen Kirchenrecht vollständig vollzogen ist. Der entscheidende
Gesichtspunkt liegt darin: evangelische Kirchenzucht kann nicht strafende
Tätigkeit im Sinne der kanonischen Ordnung sein. Als solche ist sie dem
Geiste des Kirchenwesens nicht gemäß und wird sie vom allgemeinen evan-
gelischen Rechtsbewußtsein nicht ertragen. Die Geschichte der Kirchenzuchts-
übung nach Art katholischer Strafgewalt ist eine Geschichte ununterbrochener
Mißerfolge gewesen. In dem Umstand, daß sie noch heute von der in Synoden,