II. Kirchenregierung. 289
Geistlichkeit und Kirchenregiment vorherrschenden Anschauung als Betätigung
einer Strafgewalt über Kirchenglieder festgehalten wird, liegt das wesentliche
Hindernis ihrer Wiederbelebung. Kirchenzucht im Sinne evangelischer Freiheit
und Wahrhaftigkeit kann nichts anderes und nicht mehr sein wollen, als das
feierliche Zeugnis der Kirchengemeinde über den in einem bestimmten
Falle ganz oder teilweise gelösten rechtlichen Zusammenhang zwischen
ihr und dem zuchtfälligen Kirchenglied. Diese Kirchenzucht hat prinzipaliter
einen objektiven Zweck, nicht eine subjektive Richtung. Sie soll nicht wieder-
vergelten und beschämen durch Strafe. Sie ist Gemeindereaktion gegen
Sünde, eine äußerste Tätigkeit zum Zwecke der Reinerhaltung des Leibes der
Gemeinde selbst, indem sie den Zuchtfälligen an wichtigen Äußerungen des
Gemeindelebens nicht mehr teilnehmen läßt oder sich ihm in der Darbietung
kirchlicher Segnungen versagt. Daher hat sie auch nicht den Strafzweck der
Besserung. Diesem dient allein das dem Eintritt der Kirchenzucht voran-
gehende seelsorgerliche und Mahnverfahren von Pfarrer und Ältesten. Erst
wenn dieses ergebnislos verlaufen ist, tritt die Beschlußfassung des Gemeinde-
organs über Kirchenzucht und die Anwendung ihrer Mittel ein, abgestuft nach
dem Gesichtspunkte, daß die eine völlige Lösung des Zusammenhangs dar-
stellenden äußersten Formen nur bei kundgegebener Verachtung göttlichen
Willens, bei Verletzung äußerlicher Gemeinschaftsordnung dagegen lediglich
die Entziehung einzelner Mitgliedschaftsrechte einzutreten habe. Indem dem
Zuchtfälligen der Ernst der Tatsache vor Augen gestellt wird, daß ganz oder
teilweise die Kirche den rechtlichen Zusammenhang mit ihm ablehnen muß,
mag darin immerhin ein Antrieb zur Einkehr und Besserung gelegen sein. Um
so besser. Aber Zweck der Kirchenzucht ist nicht Besserung. Das evangelische
Kirchenrecht kennt keine kanonischen Zensuren, keine poenas medicinales.
Welcher Evangelische sollte auch ernsthaft glauben, daß durch Entziehung
des politischen Wahlrechts oder des Ehrenrechts der Taufpatenschaft jemand
gebessert werde? Daß einem, der auf die Segnungen der Kirche kein Gewicht
mehr legt, nach Abschluß einer kirchenordnungswidrigen Ehe die Versagung der
kirchlichen Trauung Besserung bringe Daß jemand, der vom Abendmahl
überhaupt nichts wissen will, durch Ausschluß vom Sakrament gekessert wird?
In allen Fällen so wenig, wie der Tote durch Versagung des kirchlichen Be-
gräbnisses gebessert werden kann. Alle diese unklaren Vorstellungen beruhen
auf der irrigen Auffassung der Kirchenzucht als einer strafenden Tätigkeit der
Kirche. Daher lehnt sich das evangelische Bewußtsein gegen sie auf und
empfindet sie selbst in gerechten Fällen als Intoleranz. Kirchenzucht kann
nur gedeihen als Akt der Selbstzucht der Gemeinde, richtend in erster
Linie über sich selbst, nicht über die Gewissen anderer; bedenkend, daß jeder
Zuchtfällige zugleich ein Opfer mangelhafter Gemeindepflege ist, also die Ge-
meinde selbst eine Mitschuld zu tragen und zu verantworten hat; daher in
Ernst und Liebe diejenigen Maßnahmen der Selbsterhaltung treffend,
welche notwendig sind, um die Gemeinde als Abbild des Leibes Christi rein und
fleckenlos zu erhalten. Auf der Linie einer grundsätzlichen Reform nach dieser
Kultur der Gegenwart. Il. 8. 2. Aufl. 19