Rechtliche Be-
urteilung der
Evangelischen
Union.
308 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
selbst vielfach Rechnung getragen. Er hat ihn anderseits zu ignorieren, soweit
er rein auf dem Grunde der Lehrdifferenz beruht. Freilich ist geschichtlich
diese Schranke der Parität nicht immer verstanden und eingehalten worden.
Störend war dies namentlich in der Geschichte der preußischen Union hervor-
getreten. Ursprünglich von großem und echt reformatorischem Geiste einge-
geben, in zweihundertjähriger Tradition des Hohenzollernhauses verkörpert
in den Kurfürsten Johann Sigismund, Georg Wilhelm, dem Großen Kurfürsten,
in den Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I., und noch in dem be-
rühmten Aufrufe Friedrich Wilhelms III. vom 27. September 1817 nur als Tat
des freien Entschlusses der Gemeinden festgehalten, hat doch die Ausführung
des Unionsgedankens unter der Einwirkung einer falsch verstandenen Paritäts-
aufgabe vielfach gelitten. Es war nicht reinlich unterschieden worden, daß bei
den Bestrebungen auf Wiedervereinigung der getrennten evangelischen Kon-
fessionen die Vermittlerrolle nicht dem Staat auf Grund seiner Kirchen-
hoheit gebührte, sondern allein dem Landesherrn auf Grund seiner geschicht-
lich erworbenen Kirchengewalt. Wesentlich in dem Mangel dieser Unter-
scheidung, welcher die Übertragung staatlicher Gewaltsmaßregeln auf das
kirchliche Gebiet verschuldete, lag die Quelle der tiefen Mißstimmung und
Gewissensnot, deren Spuren die Geschichte der evangelischen Union aufzu-
weisen hat, und deren Folgen noch heute nicht überwunden sind. Diese Folgen
traten nicht nur schon in der Separation der Altlutheraner und in der Weigerung
der neu erworbenen preußischen Provinzen, der Union der Landeskirche bei-
zutreten, hervor. Sie äußern sich bis zu dieser Stunde in einem bedauerlichen
und ungerechtfertigten Mißtrauen gegen die preußische Union, welches groß-
zügigen, auf den engeren Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landes-
kirchen gerichteten Bestrebungen nicht geringe Schwierigkeiten entgegen-
setzt, ihnen mindestens eine Notwendigkeit der Vorsicht und Reserve auf-
erlegt, die es bisher zu der erfolgsbedingenden volkstümlichen Begeisterung
für die großen kirchlichen und nationalen Ziele jenes Zusammenschlusses nicht
hat kommen lassen. Um so bestimmter ist, für Gegenwart und Zukunft die
Unterscheidung der Rechtstitel und Grenzen festzulegen. Unionsgestaltungen
gehören zunächst grundsätzlich in das Zuständigkeitsgebiet der Kirche, nicht
des Staates. Eine prohibitive Einwirkung kann dem Staate höchstens hinsicht-
lich der Stufe der sog. Verfassungsunion, d. i. der Einrichtung gemein-
schaftlichen Kirchenregiments für beide Konfessionen, insoweit zustehen, als
der Staatsgesetzgebung überhaupt eine geschichtlich begründete und positiv
rechtlich begrenzte Beteiligung an der Fortbildung der evangelischen Kirchen-
verfassung zukommt. Unbedingt gilt dagegen der Grundsatz des Ausschlusses
der Staatskompetenz für die höheren Stufen der Kultus- und der Lehrunion.
Aber auch soweit für diese die Zuständigkeit der Kirchengewalt allein begründet
ist, sind durch die Entwickelung der Synodalverfassung Schranken ge-
zogen, welche die Wiederkehr gewissensverletzender Eingriffe in das geschicht-
liche Recht der Konfessionen ausschließen. Die Generalsynode der preußischen
Evangelischen Landeskirche hat seit 1891 zu wiederholten Malen die feierliche